Die Übersetzung deutscher attributiv gebrauchter Partizipialkonstruktionen ins Niederländische. Eine Analyse und ein Vergleich anhand von fünf deutschen Romanen und deren niederländischen Übersetzungen. (Arno de Jonge)

 

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4 Die Konstruktion des Tertium Comparationis

 

4.1 Einleitung

 

Im vorigen Kapitel habe ich die Ideen und Methoden für das Vergleichen von Original und Übersetzung von James Holmes, Gideon Toury und Kitty van Leuven-Zwart besprochen, kritisch durchleuchtet und daraus die Grundprinzipien für die tatsächliche Konstruktion des Tertium Comparationis hergeleitet. In diesem Kapitel werde ich ein Tertium Comparationis konstruieren, durch das die deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktionen und deren niederländische Entsprechungen analysiert und miteinander verglichen werden können. Ich strebe dabei ein Tertium Comparationis an, das weder ausgangstextorientiert noch zieltextorientiert ist. Inwiefern die Tatsache, dass die deutschen Kontruktionen den Ausgangspunkt bilden, problematisch ist, wird sich im Verlauf dieses Kapitels herausstellen.

 

 

4.2 Die Grundprinzipien

 

In Paragraph 3.6 habe ich folgende Grundprinzipien für die Konstruktion des Tertium Comparationis in dieser Arbeit formuliert:

 

- das Prinzip der Unabhängigkeit der Verzeichnis-im-Voraus-Methode;

- das Postulat der Äquivalenz;

- das Prinzip der praktischen Ausführbarkeit;

- das Prinzip der wirklichen Invarianz;

- das Prinzip der Relation als Basis für die Bestimmung der Eigenschaften;

- das Prinzip der vorangehenden Zuerkennung von Eigenschaften.

 

Das Postulat der Äquivalenz bildet den Ausgangspunkt der Analyse und des Vergleichs. Ich gehe, mit anderen Worten, davon aus, dass Äquivalenz zwischen den deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktionen und deren niederländischen Entsprechungen per definitionem zutrifft. In Kapitel 2, Paragraph 2.3, habe ich die in dieser Arbeit miteinander zu vergleichenden deutschen und niederländischen Konstruktionen aufgespürt und einander gegenübergestellt. Meine Aufgabe nun ist es, zu untersuchen, welcher Typ von Äquivalenz und welches Maß an Äquivalenz zwischen den korrespondierenden Einheiten aus beiden Sprachen bestehen. Das Mittel dazu ist das Tertium Comparationis, mit dessen Hilfe festgestellt werden soll, ob eine Verschiebung aufgetreten ist oder nicht.

 Ein Tertium Comparationis macht, meiner Meinung nach, seinem Namen keine Ehre, wenn es nicht wirklich invariant ist. Obwohl sie alle ganz wichtig sind – sie heißen nicht umsonst Grundprinzipien –, halte ich folglich das Prinzip der wirklichen Invarianz für das wichtigste Grundprinzip. Auf welche Art und Weise kann nun ein Tertium Comparationis konstruiert werden, das dem Prinzip der wirklichen Invarianz gerecht wird? Ich suche also etwas, was die deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktionen und deren niederländische Entsprechungen gemeinsam besitzen. Wenn ich mir den Kontext dieser Konstruktionen ansehe (s. Anhang 1), fällt mir auf, dass sich auch die niederländischen Konstruktionen auf nominale Bezugselemente beziehen; wie die deutschen Partizipialkonstruktionen haben auch deren niederländische Entsprechungen einen attributiven Charakter. Das bedeutet, dass das „etwas, was die deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktionen und deren niederländische Entsprechungen gemeinsam besitzen“ daraus besteht, dass sie beide Attribute, d.h. nicht selbständige nähere Bestimmungen nominaler Satzglieder sind (Bußmann 1990: 108). Das Konzept ‚Attribut‘ scheint mir in dem Sinne sehr gut als Tertium Comparationis dienen zu können, weil anhand dieses übergreifenden Konzepts die deutschen sowie die niederländischen Konstruktionen sowohl einzeln, innerhalb des eigenen Kontextes analysiert als auch – gerade wegen der Gemeinsamkeit des Konzepts – miteinander verglichen werden können. Meiner Ansicht nach ist es genau ein solches Verfahren, das wirkliche Invarianz garantiert.

 Wie verhält sich das Konzept ‚Attribut‘ nun zu den anderen Grundprinzipien? Erstens ermöglicht dieses Konzept eine Zuerkennung von Eigenschaften, die weder ausgangstextorientiert noch zieltextorientiert sind, sondern unabhängig von beiden Texten auf das Konzept selbst stützen. Damit entspricht es dem Prinzip der Unabhängigkeit der Verzeichnis-im-Voraus-Methode. Zweitens beinhaltet die Tatsache, dass das Konzept selbst die Basis der Zuerkennung von Eigenschaften bildet, zugleich, dass die Relation als Basis für die Bestimmung der Eigenschaften dient. Denn das Konzept ‚Attribut‘ verbindet die deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktionen und deren niederländische Entsprechungen wegen der gemeinsamen höheren Abstraktionsebene miteinander; die Konstruktionen aus beiden Sprachen sind konkrete Realisierungen dieser Abstraktionsebene. Die Relation zwischen beiden ist demnach im Konzept selbst einbegriffen, sie beide unterliegen dem gleichen Konzept ‚Attribut‘. Das alles bedeutet, dass auch das Prinzip der Relation als Basis für die Bestimmung der Eigenschaften erfüllt worden ist. Drittens schließt sich das Prinzip der vorangehenden Zuerkennung von Eigenschaften dem Prinzip der Unabhängigkeit der Verzeichnis-im-Voraus-Methode an. Das Konzept ‚Attribut‘ gibt denn auch selbstverständlich keine Probleme bei der vorangehenden Zuerkennung von Eigenschaften. Die Erfüllung des Prinzips der praktischen Ausführbarkeit zum Schluss scheint mir an und für sich auch nicht problematisch zu sein. Bei der tatsächlichen Konstruktion des Tertium Comparationis wird sich zeigen, inwiefern praktische Ausführbarkeit ein Thema ist. Ich erwarte da allerdings keine großen Schwierigkeiten. Alles in allem sehe ich keinen Grund dafür, das Konzept ‚Attribut‘ als Tertium Comparationis für das Vergleichen deutscher attributiv gebrauchter Partizipialkonstruktionen und deren niederländischer Entsprechungen abzulehnen. Inwiefern am Konzept gefeilt werden muss, damit es in der Praxis gut funktioniert, wird bei dessen Bearbeitung im nächsten Paragraphen deutlich werden.

 

 

4.3 Das Konzept ‚Attribut‘ als Tertium Comparationis

 

Wie oben angegeben, sind Attribute nicht selbständige nähere Bestimmungen nominaler Satzglieder. Das heißt, dass sie Personen oder Sachverhalte hinsichtlich bestimmter Merkmale charakterisieren. Ein Attribut ist also kein selbständiges Satzglied, sondern hängt von einem übergeordneten Bezugswort – d.h. dem Satzglied, zu dem es gehört – ab (Helbig 1996: 120). Deswegen kann es nicht, wie die Satzglieder im Satz, allein, sondern nur zusammen mit seinem Bezugswort verschoben werden. Nach der Form können folgende Attributtypen unterschieden werden (Helbig 1996: 121 ff.):

 

· adjektivische Attribute: das gesunde Baby;

· partizipiale Attribute: das schlafende Baby;

· infinitivische Attribute: die Hoffnung, das Spiel zu gewinnen;

· genitivische Attribute: der Sieg meines Vereins;

· präpositionale Attribute: die Freude im Stadion;

· adverbiale Attribute: die Abschlussfeier morgen;

· Attributsätze: die Hoffnung, dass wir das Spiel gewinnen oder das Kind, das auf der Straße spielt;

· appositive Attribute: die Stadt Amsterdam oder Amsterdam, eine schöne Stadt.

 

Aus den Beispielen geht hervor, dass in Bezug auf den Attributtyp zwischen ‚vorangestellten‘ und ‚nachgestellten‘ Attributen unterschieden werden kann. So ist in das gesunde Baby das Attribut gesunde vorangestellt, während in der Sieg meines Vereins das Attribut meines Vereins nachgestellt ist. Adjektivische und partizipiale Attribute stehen in den meisten Fällen vor, die anderen Attribute normalerweise hinter dem Bezugswort. Ein weiterer Aspekt betrifft die Mehrgliedrigkeit der Attribute, d.h. die Möglichkeit, dass Attribute durch zusätzliche Glieder erweitert werden können (Helbig 1996: 123). Beispiele sind:

 

(28) die behobene Verletzung

(29) die innerhalb von drei Wochen behobene Verletzung

(30) die innerhalb von drei Wochen wegen der Behandlung behobene Verletzung

(31) die innerhalb von drei Wochen wegen der vom Physiotherapeuten angewandten Behandlung behobene Verletzung

(32) die Freude im Stadion

(33) die Freude im Stadion, in der Stadt und im Land

(34) die Freude im Stadion des Gegners

 

In (29) ist das Attribut behobene aus (28) durch das zusätzliche Glied innerhalb von drei Wochen erweitert worden, während (30) zwei zusätzliche Glieder enthält, nämlich innerhalb von drei Wochen und wegen der Behandlung. Diese Erweiterungsglieder stehen in einem ‚koordinativen‘ Verhältnis zueinander, d.h., dass sie sich in gleicher Weise auf behobene beziehen. In der Attributkonstruktion innerhalb von drei Wochen wegen der Behandlung behobene bildet behobene den Kern, von dem die beiden Erweiterungsglieder in gleicher Weise abhängen. In (31) wird das Erweiterungsglied wegen der Behandlung selbst erweitert, nämlich durch das Glied vom Physiotherapeuten angewandten. Dieses Glied ist seinerseits als Attribut seinem Bezugswort Behandlung untergeordnet. Statt einer koordinativen Beziehung ist hier die Rede von einer ‚subordinativen‘ Beziehung. Mit anderen Worten, die Attributkonstruktion innerhalb von drei Wochen wegen der vom Physiotherapeuten angewandten Behandlung behobene besteht aus dem Kern behobene, aus den beiden koordinativen Erweiterungsgliedern innerhalb von drei Wochen und wegen der vom Physiotherapeuten angewandten Behandlung, wobei letzteres durch das subordinative Erweiterungsglied vom Physiotherapeuten angewandten erweitert wird. Ähnliches trifft auf die Beispiele (32), (33) und (34) zu: In (33) sehen wir die koordinativen Erweiterungsglieder im Stadion, in der Stadt und im Land, während in der Attributkonstruktion im Stadion des Gegners in (34) der Kern im Stadion durch das genitivische Attribut des Gegners erweitert wird. Genannte Unterscheidungen führen zu folgender Tabelle:

 

Tabelle 7: Typen und Aspekte in Bezug auf Attributkonstruktionen

Aspekte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Typen

 

simpel

 

 

komplex

 

 

ein

 

 

mehr

 

 

ko

 

 

sub

 

vor

 

 

hinter

 

vor

 

hinter

 

vor

 

hinter

 

Adjektivisch

 

 

 

 

 

 

 

Partizipial

 

 

 

 

 

 

 

Infinitivisch

 

 

 

 

 

 

 

Genitivisch

 

 

 

 

 

 

 

Präpositional

 

 

 

 

 

 

 

Adverbial

 

 

 

 

 

 

 

Attributsatz

 

 

 

 

 

 

 

Appositiv

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In der Tabelle haben die Aspekte ‚simpel‘, ‚vor‘ und ‚hinter‘ dieselbe Bedeutung wie in Tabelle 1 „Unterscheidungen und Aspekte in Bezug auf deutsche attributiv gebrauchte Partizipialkonstruktionen“. Der Aspekt ‚komplex‘ sieht aber anders aus. Während es in Tabelle 1 beinhaltet, dass die Partizipialkonstruktion durch ein oder mehrere Glieder erweitert worden ist, kennt er in Tabelle 7 die Unterteilung in ‚ein‘ (es gibt nur ein Erweiterungsglied) und ‚mehr‘ (es gibt mehr als ein Erweiterungsglied). Und wenn die Attributkonstruktion durch mehr als ein Glied erweitert worden ist, kann noch zwischen ‚ko‘ (es besteht ein koordinatives Verhältnis zwischen den Erweiterungsgliedern) und ‚sub‘ (es besteht ein subordinatives Verhältnis zwischen den Erweiterungsgliedern) unterschieden werden. Wenn wir in Tabelle 1 den Aspekt ‚komplex‘ auf ähnliche Weise unterteilen, sind die Tabellen 1 und 7 exakte Kopien voneinander: Tabelle 7 richtet sich im allgemeinen Sinn auf alle Attributkonstruktionen, während Tabelle 1 die Ausarbeitung eines spezifischen Attributtyps, und zwar der partizipialen Attributkonstruktion darstellt. Obwohl sich Tabelle 1 auf Unterscheidungen und Aspekte in Bezug auf deutsche attributiv gebrauchte Partizipialkonstruktionen bezieht, kann sie ohne weiteres auf niederländische attributiv gebrauchte Partizipialkonstruktionen angewendet werden. Der einzige Unterschied zwischen dem Deutschen und dem Niederländischen betrifft das Gerundivum, d.h. Kategorie ‚P1 Gerundivum‘ in Tabelle 1. In diesem Fall verwendet das Niederländische statt eines 1. Partizips ein Infinitiv, dem die Konjunktion te vorangeht, z.B.:

 

(35) Luca erkennt die Leistung an Þ die anzuerkennende Leistung

(36) Luca waardeert de prestatie Þ de te waarderen prestatie

 

In (36), das die niederländische Übersetzung von (35) ist, korrespondiert die attributiv gebrauchte Infinitivkonstruktion te waarderen mit dem deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktion anzuerkennende. Mit anderen Worten, dem niederländischen Partizip fehlt eine Anwendungsmöglichkeit des deutschen Partizips. Auf die Verwunding von Tabelle 1 als Analyseinstrument hat das allerdings keinen Einfluss. Es bedeutet einfach, dass die Tabelle im Falle einer niederländischen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktion eine Kategorie weniger hat.

Wenn wir uns Tabelle 7 ansehen, sehen wir also eigentlich Schnee von gestern. Die Frage lautet denn auch, inwiefern Tabelle 7 ein hilfreiches Instrument für die Analyse und den Vergleich der deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktionen und deren niederländischer Entsprechungen ist. Denn in der Praxis wird es darauf hinauslaufen, dass bei der Analyse der deutschen Konstruktionen Tabelle 1, die eine Ausarbeitung von Tabelle 7 ist, und bei der Analyse der niederländischen Konstruktionen Tabelle 7 oder im Falle einer partizipialen Attributkonstruktion Tabelle 1 verwendet wird. Wozu denn eigentlich das Konzept ‚Attribut‘ als Tertium Comparationis und was ergibt es? Der Grund für die Verwendung des Konzeptes ‚Attribut‘, wie es in Tabelle 7 erarbeitet worden ist, lautet, dass es eine formale, syntaktische Analyse der Konstruktionen ermöglicht. Die Aspekte ‚vor‘ und ‚hinter‘ richten sich auf die Stellung der Attributkonstruktion bezüglich des Bezugswortes. Bei den Aspekten ‚simpel‘ und ‚komplex‘ stehen die einzelnen Glieder der Konstruktion im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, was ein Fokus auf Auslassungen oder Hinzufügungen von Erweiterungsgliedern möglich macht. Der Attributtyp zum Schluss hat als Ausgangspunkt den Kern der Attributkonstruktion, das Attribut, und beschäftigt sich demnach mit der Wortart und Wortform des Attributs und mit der Struktur der Attributkonstruktion. Wenn wir z.B die anzuerkennende Leistung (35) und de te waarderen prestatie (36) einander gegenüberstellen, ergibt die Analyse anhand der Tabellen 1 und 7 in Bezug auf anzuerkennende und te waarderen folgende konkrete Ergebnisse:

 

Tabelle 8: Ergebnisse der syntaktischen Analyse von die anzuerkennende Leistung und de te waarderen prestatie anhand der Tabellen 1 und

 7. V bedeutet Verschiebungen: ja (+) oder nein (-)

 Konstruktionen

 

Aspekte

 

anzuerkennende

 

te waarderen

 

V

 

Struktur

 

partizipial

 

infinitivisch

 

+

 

Wortart des Attributs

 

Verb

 

Verb

 

-

 

Wortform des Attributs

 

1. Partizip mit zu

 

Infinitiv mit te

 

+

 

Stellung

 

vor

 

vor

 

-

 

Auslassung

 

 

 

Æ

 

-

 

Hinzufügung

 

 

Æ

 

-

 

In der Tabelle bekommen die deutsche und niederländische Konstruktion in Bezug auf die aus den Tabellen 1 und 7 entlehnten Aspekte ‚Struktur‘, ‚Wortart des Attributs‘, ‚Wortform des Attributs‘, ‚Stellung‘, ‚Auslassung‘ und ‚Hinzufügung‘ einen bestimmten Wert und daraus lässt sich schließen, ob eine Verschiebung aufgetreten ist oder nicht. Wie ich schon eher angegeben habe, bilden Verschiebungen ein unentbehrliches Teil der Analyse und des Vergleichs, da ich die Frage nach der Art und Weise, wie deutsche attributiv gebrauchte Partizipialkonstruktionen ins Niederländische übersetzt werden, nur beantworten kann, wenn ich anhand des Tertium Comparationis angeben kann, ob Verschiebungen in den Übersetzungen stattgefunden haben oder nicht. Aus der Analyse der Beispielkonstruktionen geht hervor, dass es tatsächlich Verschiebungen gibt: Sowohl die Struktur als auch die Wortform des Attributs der beiden Konstruktionen unterscheiden sich voneinander. Meine Antwort auf obige Frage lautet denn auch, dass sowohl Tabelle 1 als auch Tabelle 7 ganz bestimmt hilfreiche Instrumente sind und das Konzept ‚Attribut‘ alles andere als sinnlos ist.

Ich muss dazu jedoch zwei wichtige Randbemerkungen machen. Erstens habe ich bei der Behandlung der Beispiele (35) und (36) bemerkt, dass anzuerkennende und te waarderen dieselbe Bedeutung haben. Und trotzdem haben wir eben festgestellt, dass zwei Arten von Verschiebungen stattgefunden haben. Offenbar erzählen diese Verschiebungen nicht die ganze Geschichte, denn daraus lässt sich in Bezug auf die Bedeutung nichts schließen. Mit anderen Worten, mit dem Konzept ‚Attribut‘, wie es bisher in den Tabellen 1 und 7 ausgearbeitet worden ist, kann eine semantische Analyse nicht durchgeführt werden. Obwohl unentbehrlich, ist eine Analyse anhand der Tabellen 1 und 7 infolgedessen nicht ausreichend. Das macht meiner Meinung nach eine nähere Ausarbeitung des Konzepts ‚Attribut‘ notwendig. Zweitens kann es selbstverständlich mal vorkommen, dass die niederländische Entsprechung einer deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktion keine Attributkonstruktion ist. Sollte das der Fall sein, fehlt der Grund für die Verwendung des Konzepts ‚Attribut‘ als Tertium Comparationis und entfällt infolgedessen eine Analyse anhand der Tabellen 1 und 7. Auf die Art und Weise, wie ich solch einen Fall anfasse, komme ich in Paragraph 4.5 zurück.

 

 

4.4 Die nähere Ausarbeitung des Konzepts ‚Attribut‘

 

Im vorigen Paragraphen habe ich festgestellt, dass die Form an sich nichts über die Bedeutung sagt. Zwei unterschiedliche Konstruktionen wie eine deutsche attributiv gebrauchte Partizipialkonstruktion und eine niederländische attributiv gebrauchte Infinitivkonstruktion können dasselbe bedeuten. Meiner Meinung nach sind Form und Bedeutung die bestimmenden Aspekte eines sprachlichen Ausdrucks, einer linguistischen Konstruktion, eines Wortes u.A. Die formale, syntaktische Seite der deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktionen und deren niederländischer Entsprechungen, das Wie der Konstruktionen kommt bei der Analyse anhand der Tabellen 1 und 7 zur Sprache. Die Frage nun lautet, wie ich die semantische Seite, das Was der deutschen und niederländischen Konstruktionen analysieren kann. Wie wir gesehen haben, besteht eine Attributkonstruktion aus einem Kern, dem Attribut, und eventuell einem restlichen Teil, den Erweiterungsgliedern, wobei die Erweiterungsglieder dem Attribut untergeordnet sind. Das Attribut regiert also die Erweiterungsglieder und ist in der Attributkonstruktion das bestimmende Element. Diese Tatsache nun ist der Grund dafür, dass ich mich in Bezug auf die Bedeutung der Attributkonstruktion auf die Bedeutung des Attributs konzentriere. Mit anderen Worten, die nähere Ausarbeitung des Konzepts ‚Attribut‘ bezieht sich auf den Kern der Attributkonstruktion, das Attribut.

Die Methodik für die semantische Analyse und den semantischen Vergleich der deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktionen und deren niederländischer Entsprechungen entnehme ich dem Vergleichsmodell von van Leuven-Zwart. Zuerst konstruiere ich mithilfe des deutschen Bedeutungswörterbuches Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Bänden (Drosdowski 1993) und des niederländischen Bedeutungswörterbuches Van Dale Groot Woordenboek der Nederlandse Taal (Geerts/Boon 1999) ein Architransem, wodurch die Bedeutungen der Attribute aus den deutschen und niederländischen Konstruktionen miteinander verglichen werden können. Darauf gebe ich an, ob das Architransem und das betreffende Attribut übereinstimmen (Synonymie) oder sich voneinander unterscheiden (Hyponymie). Dabei werden die Relationen zum Architransem für das deutsche und niederländische Attribut einzeln festgestellt. Auf der Basis der einzelnen Relationen des deutschen und niederländischen Attributs zum Architransem wird danach angedeutet, wie sich das deutsche und niederländische Attribut zueinander verhalten. Es bestehen allerdings auch Situationen, in denen es nicht möglich ist, ein Architransem zu konstruieren. Die Unmöglichkeit zur Konstruktion eines Architransems bezeichne ich als einen Fall radikalen Bedeutungswandels. Die einzelnen Relationen des deutschen und niederländischen Attributs zum Architransem und die Art der gegenseitigen Relation können nun allgemein wie folgt charakterisiert werden:

 

Tabelle 9: Die einzelnen Relationen des deutschen und niederländischen Attributs zum Architransem und deren Bedeutung für die  gegenseitige Relation

 

Deutsches Attribut

 

 

Niederländisches Attribut

 

Gegenseitige Relation

 

Verschiebung

 

Synonymie

 

Synonymie

 

Identität

 

-

 

Synonymie

 

Hyponymie

 

Spezifizierung

 

+

 

Hyponymie

 

Synonymie

 

Verallgemeinerung

 

+

 

Hyponymie

 

Hyponymie

 

Kontrast

 

+

 

Æ

 

Æ

 

radikaler Bedeutungswandel

 

+

 

Auf der Basis dieser Tabelle wird bestimmt, welche Art der Relation zwischen dem deutschen und dem niederländischen Attribut zutrifft und ob Verschiebungen aufgetreten sind oder nicht.

Betrachten wir folgende zwei Konstruktionen:

(37) das spielende Kind

(38) het spelende kind

 

Für die beiden Attributkonstruktionen spielende und spelende formuliere ich als Architransem ‚sich zum Vergnügen mit etwas beschäftigen‘. Zwischen beiden besteht auf der Basis obiger Tabelle eine Relation der Identität. Es sind also keine Verschiebungen aufgetreten. Ich erweitere nun (37) und (38) wie folgt:

 

(39) das im Wohnzimmer spielende Kind

(40) het in de kamer spelende kind

 

Auch in diesem Fall lautet das Architransem ‚sich zum Vergnügen mit etwas beschäftigen‘ und finden auf Grund dessen keine Verschiebungen statt. Trotzdem besteht ein Unterschied zwischen beiden Konstruktionen, denn Wohnzimmer und kamer unterscheiden sich in dem Sinne voneinander, dass kamer eine allgemeinere Bezeichnung für ‚Raum‘ ist als Wohnzimmer. Da sich dieser Bedeutungswandel nur auf die Relation zwischen den beiden einzelnen Erweiterungsgliedern bezieht und keine Rolle in der Bedeutungsrelation zwischen dem deutschen und dem niederländischen Attribut spielt – spielende und spelende haben dieselbe Bedeutung –, werde ich ihn nicht an sich analysieren. Der Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die Frage, wie deutsche attributiv gebrauchte Partizipialkonstruktionen ins Niederländische übersetzt werden, und vor diesem Hintergrund sprengen Unterschiede bezüglich der Erweiterungsglieder, die ihre Ursache nicht in der Attributkonstruktion selbst haben, sondern eine interne Sache der Erweiterungsglieder sind oder die Ebene der Attributkonstruktion übersteigen, den Rahmen dieser Arbeit. Der Fokus der Analyse ist nicht das einzelne Erweiterungsglied, sondern die Attributkonstruktion als Ganzes, in dem das Attribut im Mittelpunkt steht.

 Die Tatsache, dass sich die nähere Ausarbeitung des Konzepts ‚Attribut‘ auf das Attribut bezieht, bedeutet nicht, dass ich den Bedeutungen der Erweiterungsglieder überhaupt keine Beachtung schenke. Sehen wir uns folgende Konstruktionen an:

 

(41) das sehr leise sprechende Kind

(42) het zacht pratende kind

(43) het fluisterende kind

 

Ich betrachte (41) als das Original und (42) und (43) als mögliche niederländische Übersetzungen dieses Originals. Wenn wir diese Konstruktionen anhand der Tabellen 1 und 7 analysieren, entsteht folgendes Bild:

 

Tabelle 10: Ergebnisse der syntaktischen Analyse von das sehr leise sprechende Kind, het zacht pratende kind und het fluisterende kind

 anhand der Tabellen 1 und 7

 Konstruktionen

 

Aspekte

 

sehr leise sprechende

 

zacht pratende

 

V

 

fluisterende

 

V

 

Struktur

 

partizipial

 

partizipial

 

-

 

partizipial

 

-

 

Wortart

 

Verb

 

Verb

 

-

 

Verb

 

-

 

Wortform

 

1. Partizip

 

1. Partizip

 

-

 

1. Partizip

 

-

 

Stellung

 

vor

 

vor

 

-

 

vor

 

-

 

Auslassung

 

 

Grad

 

+

 

 

Grad

Modalität

 

+

+

 

Hinzufügung

 

 

Æ

 

-

 

Æ

 

-

 

Aus der Tabelle geht hervor, dass in (41) ein Erweiterungsglied vorkommt, das es in (42) nicht gibt. In Bezug auf dieses Erweiterungsglied ist also eine Verschiebung aufgetreten. Wenn ich (41) und (42) anhand des Architransems ‚Wörter hervorbringen‘ analysiere, stelle ich eine Relation der Identität fest: Auf der semantischen Ebene haben keine Verschiebungen stattgefunden. Das bedeutet, dass die Auslassung des Erweiterungsglieds in (42) ein Einzelfall ist, d.h., dass sie eine interne Sache des Erweiterungsglieds ist oder die Ebene der Attributkonstruktion übersteigt. Daher hat sie mit der Bedeutungsrelation zwischen dem deutschen und dem niederländischen Attribut nichts zu tun. Wie die Verschiebung in (39) und (40) zwischen Wohnzimmer und kamer werde ich auch ihr keine weitere Beachtung schenken und demnach nicht einzeln analysieren.

Die gleiche Situation scheint in (41) und (43) einzutreten, wo sogar zwei Erweiterungsglieder aus (41) nicht in (43) vorkommen. Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen (42) und (43): Die Attribute sprechende und pratende haben dieselbe Bedeutung, während das bei sprechende und fluisterende nicht der Fall ist. Im Falle von (41) und (43) besteht auf der Basis des Architransems ‚Wörter hervorbringen‘ eine Relation der Spezifizierung, denn sprechende hat eine Relation der Synonymie zum Architransem und fluisterende eine Relation der Hyponymie. Die Ursache dieser semantischen Verschiebung ist allerdings in der Abwesenheit der Erweiterungsglieder in (43) zu finden. Die Erweiterungsglieder aus (41) sind in (43) nämlich nicht einfach so, ohne offensichtlichen Grund wie das Erweiterungsglied in (42) ausgelassen worden, sondern ihre Bedeutung ist jetzt im 1. Partizip fluisterende einbegriffen. Die Auslassungen in (43) werden also im Attribut selbst kompensiert: sehr leise sprechende und fluisterende haben dieselbe (konzeptuelle) Bedeutung. Mit anderen Worten, in diesem Fall hängen die Auslassungen mit der Bedeutungsrelation zwischen dem deutschen und dem niederländischen Attribut zusammen.

 In Paragraph 3.7 habe ich bemerkt, dass ich den Unterschied zwischen formalen und substantiellen Verschiebungen verwenden werde. Als formale Verschiebungen betrachte ich nun diejenigen Verschiebungen, die ihre Ursachen in den Attributkonstruktionen selbst haben, wie in (41) und (43) bei sehr leise sprechende und fluisterende der Fall ist. Auch im Falle von anzuerkennende und te waarderen in den Beispielen (35) und (36) spreche ich über eine formale Verschiebung. Die Änderung des deutschen partizipialen Attributs in ein niederländisches infinitivisches Attribut hat ihre Ursache in der Bedeutung der Attributkonstruktionen selbst: Wie wir gesehen haben, wird die Bedeutung der deutschen attributiven Gerundivumkonstruktion im Niederländischen von einer attributiven Infinitivkonstruktion ausgedrückt. Diejenigen Verschiebungen, die mit den Attributkonstruktionen als Ganzem nichts zu tun haben, sondern eine interne Sache des Glieds sind oder die Ebene der Attributkonstruktion übersteigen, nenne ich substantielle Verschiebungen. Die Verschiebungen in (39) und (40) zwischen Wohnzimmer und kamer und in (41) und (42) bezüglich der Auslassung des Erweiterungsglieds bezeichne ich demnach als substantielle Verschiebungen.

Nicht nur Erweiterungsglieder, sondern auch Attribute können substantielle Verschiebungen aufweisen. Betrachten wir folgende zwei Konstruktionen:

 

(44) das sprechende Kind

(45) het fluisterende kind

 

Wie wir in (41) und (43) gesehen haben, besteht zwischen sprechende und fluisterende eine Relation der Spezifizierung. Während aber dort die Attributkonstruktionen sehr leise sprechende und flüsterende dieselbe (konzeptuelle) Bedeutung haben und die Verschiebung daher eine formale ist, ist davon in (44) und (45) keine Rede. Die Attribute, und Attributkonstruktionen, sprechende und fluisterende weisen eine Verschiebung auf, wofür in der Konstruktion selbst keine Ursache zu finden ist. Diese Verschiebung nenne ich infolgedessen eine substantielle Verschiebung. Das Ganze kann schematisch folgendermaßen dargestellt werden:

 

Tabelle 11: Mögliche Kombinationen von Attributen und Erweiterungsgliedern bezüglich der An- oder Abwesenheit von Verschiebungen

 Erweiterungsglieder

Attribut

 

Verschiebung: nein

 

Verschiebung: ja

 

Verschiebung: nein

 

keine Verschiebung

 

substantielle Verschiebung

 

Verschiebung: ja

 

substantielle Verschiebung

 

formale oder substantielle Verschiebung

 

Nur wenn sowohl das Attribut als auch die Erweiterungsglieder Verschiebungen aufweisen, bedarf es also einer eingehenderen Analyse, um feststellen zu können, ob die Verschiebungen formal oder substantiell sind. Da die formale, syntaktische Analyse anhand der Tabellen 1 und 7 semantische Verschiebungen in Erweiterungsgliedern wie in (39) und (40) zwischen Wohnzimmer und kamer nicht bloßlegt, muss nach der Feststellung einer Verschiebung im Attribut immer die Frage gestellt werden, ob in Erweiterungsgliedern semantische Verschiebungen vorkommen, die mit der Verschiebung im Attribut zusammenhängen. So könnte der Grund für einen Unterschied wie den zwischen Wohnzimmer und kamer z.B. lauten, dass das Bedeutungselement Wohn aus Wohnzimmer bei der Übersetzung in eine bestimmte Sprache nicht in einem damit korrespondierenden Substantiv, sondern in einem Verb mit der Bedeutung ‚wohnspielen‘ ausgedrückt wird. In diesem Fall wären die Verschiebungen nicht substantiell, sondern formal. Wenn die obige Frage nicht ohne weiteres, ohne nähere Analyse mit Nein beantwortet werden kann, bedarf es auch einer semantischen Analyse der Erweiterungsglieder. Diese semantische Analyse wird nach der in diesem Paragraphen präsentierten Methode durchgeführt.

 

 

4.5 Die semantischen Aspekte des Attributs

 

Bisher habe ich mich nur im allgemeinen Sinne über die semantische Analyse und den semantischen Vergleich der deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktionen und deren niederländischer Entsprechungen geäußert. Wie fasse ich ‚semantisch‘ nun genau auf? Um die semantischen Aspekte des Attributs auszudrücken, werde ich diejenigen Bedeutungstypen verwenden, die Albrecht Neubert in seinem Artikel Kinds of Lexical Meaning beschrieben hat (Neubert 1978: 241-246). In Bezug auf lexikalische Bedeutung unterscheidet er:

 

· konzeptuelle (referentielle) Bedeutung: bezieht sich auf die konstante begriffliche Grundbedeutung eines sprachlichen Ausdrucks. Im Satz Der Bundeskanzler spricht normalerweise als Erster im Bundestag verweist Bundeskanzler auf das allgemeine Konzept ‚Bundeskanzler‘: Leiter der Bundesregierung. Im Satz Der Bundeskanzler sprach am 13. März 2003 im Bundestag verweist Bundeskanzler auf einen konkreten Bundeskanzler, nämlich Gerhard Schröder (referentiell);

· stilistische Bedeutung: bezieht sich auf die Eigenart der Ausdrucksweise. So ist Chef die allgemeine, neutrale Bezeichnung für Leiter, während Boss im stilistischen Sinne eher eine informelle Bezeichnung ist;

· kollokative Bedeutung: bezieht sich auf die charakteristische Bedeutung bestimmter Wortverbindungen. Im Satz Ich trage das gelbe Tricot nur zu Hause ist gelbe Tricot einfach ein Tricot mir der Farbe ‚gelb‘, während gelbe Tricot im Satz Lance Armstrong trägt das gelbe Tricot bedeutet, dass er in der Gesamtwertung der Tour de France führt;

· figurative Bedeutung: bezieht sich auf den bildlichen, übertragenen Charakter. Im Satz Wir haben ihre Gesichter gesehen beinhalten Gesichter konkrete Gesichter, während Gesichter im Satz Wir brauchen neue Gesichter Personen bedeuten;

· konnotative Bedeutung: bezieht sich auf subjektiv variable, emotive Bedeutungskomponenten. So ist Bulle nicht nur die normale, neutrale Bezeichnung für männliche Tiere verschiedener Großwildarten, sondern auch die abwertende Bezeichung für Polizeibeamten;

· grammatikalische Bedeutung: bezieht sich auf mit der Wortart zusammenhängende semantische Merkmale. Man denke in Bezug auf Verben z.B. an den Unterschied zwischen durativ und perfektiv oder zwischen Tätigkeit, Vorgang und Zustand.

 

Anhand dieser sechs Bedeutungsaspekte werde ich die deutschen und niederländischen Attribute analysieren und miteinander vergleichen. Ich mache dabei einen Unterschied zwischen konzeptueller Bedeutung einerseits und stilistischer, kollokativer, figurativer, konnotativer und grammatikalischer Bedeutung andererseits. Konzeptuelle Bedeutung betrachte ich als semantische Bedeutung im allgemeinen Sinne. Dieser Bedeutungsaspekt bildet den Ausgangspunkt, die Basis der semantischen Analyse: Wenn zwei Begriffe dieselbe konzeptuelle Bedeutung haben, stimmen sie im Großen und Ganzen überein. Die anderen Bedeutungsaspekte ihrerseits ergänzen die konzeptuelle Bedeutung; sie nuancieren das konzeptuelle semantische Bild, was vor allem im Falle eines literarischen Textes – und damit haben wir es in dieser Arbeit zu tun – von äußerster Wichtigkeit ist. Wenn die semantische Analyse diese Bedeutungsaspekte betrifft, spreche ich über semantische Bedeutung im spezifischen Sinne. Ich mache den Unterschied zwischen semantischer Bedeutung im allgemeinen Sinne und semantischer Bedeutung im spezifischen Sinne, weil ich es für wichtig halte, anzugeben, ob die deutsch-niederländischen Konstruktionspaare nur bezüglich der konzeptuellen Bedeutung, nur bezüglich der stilistischen, kollokativen, figurativen, konnotativen und/oder grammatikalischen Bedeutung oder bezüglich beider Bedeutungsgruppen Verschiebungen aufweisen.

Die unterschiedlichen Bedeutungsaspekte treten selbstverständlich nicht isoliert, unabhängig von einander auf, sondern beeinflussen einander gegenseitig. So enthält Bulle als abwertende Bezeichnung für Polizeibeamten (die konnotative Bedeutung) zugleich eine starke figurative Bedeutungskomponente: Bei Bulle stellen wir uns keine süße, junge Katze, sondern einen brüllenden und gefährlich angestürmt kommenden Bullen vor. Der Unterschied zwischen den einzelnen Bedeutungsaspekten wird demnach nicht immer leicht zu machen sein. Ferner gilt, dass der Bereich der Bedeutungstypen nicht einzig und allein den Attribut selbst, sondern auch andere Elemente beinhaltet. Die Bedeutung des Attributs wird, mit anderen Worten, mit anderen Elementen in Zusammenhang gebracht. Das geht vor allem aus dem kollokativen Bedeutungsaspekt hervor, wobei ich auf das gelbe Tricot aus dem oben genannten Beispiel hinweise. Auch diese Orientierung an der direkten Umgebung macht die oben stehenden Bedeutungstypen meiner Meinung nach sehr geeignet für eine semantische Analyse der deutschen und niederländischen Attribute.

 Nehmen wir nun folgende zwei Konstruktionen:

 

(46) eine zu würdigende Leistung

(47) een bewonderenswaardige prestatie

 

Ich betrachte (46) als das Original und (47) als eine mögliche niederländische Übersetzung des deutschen Originals. Wenn ich die Attribute zu würdigende und bewonderenswaardige anhand der sechs Bedeutungsaspekte analysiere, kommen folgende Ergebnisse heraus:

 

Tabelle 12: Ergebnisse der semantischen Analyse von zu würdigende und bewonderenswaardige. Architransem: ‚ Würdigung verdienen‘

 Konstruktionen

 

Aspekt

 

zu würdigende

 

 

bewonderenswaardige

 

Art der Relation

 

Verschiebung

 

Konzept

 

Synonymie

 

Hyponymie

 

Spezifizierung

 

+

 

Stil

 

Synonymie

 

Synonymie

 

Identität

 

-

 

Kollokation

 

nicht zutreffend

 

nicht zutreffend

 

nicht zutreffend

 

x

 

Figuration

 

Synonymie

 

Synonymie

 

Identität

 

-

 

Konnotation

 

Synonymie

 

Synonymie

 

Identität

 

-

 

Grammatik

 

Synonymie

 

Synonymie

 

Identität

 

-

 

Aus der Tabelle geht hervor, dass sich zu würdigende und bewonderenswaardige in der konzeptuellen Bedeutung voneinander unterscheiden. Das deutsche und niederländische Attribut können in groben Zügen in folgende Bedeutungseinheiten zerlegt werden: zu würdigen-d(e) bzw. bewonderen-(s)-waardig(e), wobei in Klammern die nicht zutreffenden Elemente stehen. Wegen des Gerundivumcharakters des deutschen Attributs und des damit korrespondierenden Elements waardig im niederländischen Attribut stimmen beide Attribute im Architransemaspekt ‚verdienen‘ überein. Zwischen würdigen und bewonderen besteht allerdings ein Unterschied, weil bewonderen spezifischer ist als würdigen: bewonderen bedeutet ‚außergewöhnlich würdigen‘. Auf Grund dieses Unterschieds konstatiere ich eine Relation der Spezifizierung, was eine Verschiebung beinhaltet. Was die stilistische, figurative, konnotative und grammatikalische Bedeutung betrifft, unterscheiden sich beide Attribute nicht voneinander: würdigen und bewonderen haben in stilistischer, figurativer, konnotativer und grammatikalischer Hinsicht beide eine Synonymierelation mit dem Architransem und weisen in diesem Bereich denn auch keine gegenseitigen Unterschiede auf. Ich weise nachdrücklich darauf hin, dass es sich in Bezug auf diese Bedeutungsaspekte nicht um den Unterschied zwischen einem partizipialen Attribut und einem adjektivischen Attribut an sich handelt. Die Frage, welche Unterschiede zwischen einem deutschen partizipialen Attribut und einem niederländischen adjektivischen Attribut bestehen, kann ich nicht und will ich auch nicht beantworten. Mir geht es darum, unabhängig vom Attributtyp anhand des Architransems die Bedeutung der beiden Attribute zu analysieren und miteinander zu vergleichen.

 Zum Schluss dieses Paragraphen komme ich auf meine Bemerkung aus Paragraph 4.3 zurück, dass es mal vorkommen kann, dass die niederländische Entsprechung einer deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktion keine Attributkonstruktion ist, in diesem Fall der Grund für die Verwendung des Konzepts ‚Attribut‘ fehlt und eine Analyse anhand der Tabellen 1 und 7 infolgedessen entfällt. Was mache ich nun, wenn diese Situation zutrifft? Im vorigen Paragraphen haben wir gesehen, dass von radikalem Bedeutungswandel die Rede ist, wenn kein Architransem konstruiert werden kann. In Analogie dazu spreche ich im Fall, dass die niederländische Entsprechung einer deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktion keine Attributkonstruktion ist, über einen ‚radikalen Strukturwandel‘. Die nachstehenden Konstruktionen enthalten zwei Beispiele radikalen Strukturwandels:

 

(48) die laut singenden Männer

(49) het luide zingen van de mannen

(50) het luide gezang van de mannen

 

In (49) ist die deutsche attributiv gebrauchte Partizipialkonstruktion laut singenden aus (48) durch die substantivierte Infinitivkonstruktion luide zingen und in (50) durch die Substantivgruppe luide gezang übersetzt worden. Obwohl, wie gesagt, eine Analyse anhand der Tabellen 1 und 7 entfällt, bleibt es möglich, festzustellen, ob es Auslassungen oder Hinzufügungen gibt. In den oben stehenden Konstruktionen trifft das nicht zu: Das adverbial gebrauchte Adjektiv laut aus (48) ist in (49) und (50) ein attributiv gebrauchtes Adjektiv geworden. Auf die gleiche Art und Weise, wie ich das deutsche partizipiale Attribut zu würdigende und das niederländische adjektivische Attribut bewonderenswaardige in semantischer Hinsicht analysiert und miteinander verglichen habe, ist meiner Meinung nach auch eine semantische Analyse und ein semantischer Vergleich zwischen dem deutschen Attribut singenden einerseits und den beiden niederländischen Konstruktionskernen zingen und gezang andererseits möglich. Im Fall von singenden und zingen sieht das folgendermaßen aus:

 

Tabelle 13: Ergebnisse der semantischen Analyse von singenden und zingen. Architransem: ‚mit der Stimme eine musikalische Folge von  Tönen erzeugen‘

 Konstruktionen

 

Aspekte

 

singenden

 

 

zingen

 

Art der Relation

 

Verschiebung

 

Konzept

 

Synonymie

 

Synonymie

 

Identität

 

-

 

Stil

 

Synonymie

 

Synonymie

 

Identität

 

-

 

Kollokation

 

nicht zutreffend

 

nicht zutreffend

 

nicht zutreffend

 

x

 

Figuration

 

Synonymie

 

Synonymie

 

Identität

 

-

 

Konnotation

 

Synonymie

 

Synonymie

 

Identität

 

-

 

Grammatik

 

Synonymie

 

Synonymie

 

Identität

 

-

 

Aus der Tabelle geht hervor, dass keine Verschiebungen aufgetreten sind. Die einzige Verschiebung betrifft also den radikalen Strukturwandel. Da im Niederländischen in diesem Fall eine attributive Entsprechung möglich gewesen wäre und die Ursache des radikalen Strukturwandels demnach nicht in irgendwelchem Unterschied zwischen dem deutschen und dem niederländischen Sprachsystem zu finden ist, ist von einer substantiellen Verschiebung die Rede.

 

 

4.6 Resümee: die aufeinander folgenden Schritte

 

Im nächsten Kapitel werde ich die deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktionen und deren niederländische Entsprechungen, die in Paragraph 2.3 wiedergegeben worden sind, mit Hilfe des in diesem Kapitel konstruierten Tertium Comparationis analysieren und miteinander vergleichen. Bevor ich dazu übergehe, fasse ich in diesem Schlussparagraphen anhand der aufeinander folgenden Schritte, die ich bezüglich der Analyse und des Vergleichs machen werde, die Vorgehensweise zusammen. Das Vorgehen sieht folgendermaßen aus:

 

- Schritt 1: die deutschen attributiv gebrauchten Partizipialkonstruktionen anhand von Tabelle 1 und deren niederländische Entsprechungen anhand von Tabelle 7 oder im Falle einer Partizipialkonstruktion anhand von Tabelle 1 in formaler, syntaktischer Hinsicht analysieren, die Ergebnisse der Analyse in nachstehender Datenkarte 1 wiedergeben und feststellen, ob Verschiebungen aufgetreten sind oder nicht. Wenn eine niederländische Entsprechung keine Attributkonstruktion ist, nur die Kategorien ‚Struktur‘, ‚Auslassung‘ und ‚Hinzufügung‘ ausfüllen;

 

Datenkarte 1: Ergebnisse der syntaktischen Analyse

 Konstruktionen

 

Aspekte

 

Original

 

Übersetzung

 

Verschiebung

 

Struktur

 

 

 

 

Wortart des Attributs

 

 

 

 

Wortform des Attributs

 

 

 

 

Stellung

 

 

 

 

Auslassung

 

 

 

 

Hinzufügung

 

 

 

 

- Schritt 2: das deutsche Attribut und das niederländische Attribut anhand des Architransems in semantischer Hinsicht analysieren, die einzelnen Relationen der Attribute zum Architransem (Synonymie oder Hyponymie) und die Art der gegenseitigen Relation (Identität, Spezifizierung, Verallgemeinerung, Kontrast oder radikalen Bedeutungswandel) in nachstehender Datenkarte 2 wiedergeben und feststellen, ob Verschiebungen aufgetreten sind oder nicht;

 

Datenkarte 2: Ergebnisse der semantischen Analyse. Architransem:

 Attribute

 

Aspekte

 

Original

 

 

Übersetzung

 

Art der Relation

 

Verschiebung

 

Konzept

 

 

 

 

 

Stil

 

 

 

 

 

Kollokation

 

 

 

 

 

Figuration

 

 

 

 

 

Konnotation

 

 

 

 

 

Grammatik

 

 

 

 

 

- Schritt 3: auf Grund der Datenkarten 1 und 2 feststellen, ob Verschiebungen aufgetreten sind oder nicht. Wenn sie vorkommen, zu Schritt 4 übergehen. Ist das nicht der Fall, die Analyse beenden;

- Schritt 4: die in Schritt 1 und Schritt 2 festgestellten Verschiebungen bezüglich Belegstelle (Konstruktion, Attribut oder Erweiterungsglied) in Datenkarte 3 wiedergeben und anhand von Tabelle 11 die Art der Verschiebungen (formal oder substantiell) bestimmen. Dabei sind folgende drei Situationen von Belang:

· das Attribut weist keine Verschiebungen auf: die Analyse beenden;

· nur das Attribut weist Verschiebungen auf: die Frage stellen, ob in den Erweiterungsgliedern semantische Verschiebungen vorkommen, die mit der Verschiebung im Attribut zusammenhängen. Wenn diese Frage nicht ohne weiteres, ohne nähere Analyse mit Nein beantwortet werden kann, eine semantische Analyse der Erweiterungsglieder durchführen (s. Schritt 2) und anhand deren untersuchen, ob die Ursache für die Verschiebungen in den Attributkonstruktionen selbst zu finden ist oder nicht: Im ersteren Fall sind die Verschiebungen formal, im letzteren substantiell;

· sowohl das Attribut als auch die Erweiterungsglieder weisen Verschiebungen auf: die Frage stellen, ob in den Erweiterungsgliedern Verschiebungen vorkommen, die mit der Verschiebung im Attribut zusammenhängen. Wenn diese Frage nicht ohne weiteres, ohne nähere Analyse mit Nein beantwortet werden kann, eine semantische Analyse der Erweiterungsglieder durchführen (s. Schritt 2) und anhand deren untersuchen, ob die Ursache für die Verschiebungen in den Attributkonstruktionen selbst zu finden ist oder nicht: Im ersteren Fall sind die Verschiebungen formal, im letzteren substantiell.

 

Datenkarte 3: Die festgestellten Verschiebungen, deren Belegstelle und deren Art

 Aspekte

 

Verschiebungen

 

Belegstelle

 

Art

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf der Basis der obigen Schritten werden nun im nächsten Kapitel für jedes deutsch-niederländische Paar zu analysierende und miteinander zu vergleichende Konstruktionen die von mir gewünschten Daten gesammelt und in den betreffenden Datenkarten wiedergegeben. Mit diesen Daten kann ich auf eine systematische Art und Weise untersuchen, ob bei der Übersetzung deutscher attributiv gebrauchter Partizipialkonstruktionen ins Niederländische bestimmte Regelmäßigkeiten auftreten.

 

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