Robert Musils Die Versuchung der stillen Veronika – Ein interpretatorischer Versuch. (Tamar Stooker) |
home | liste der Referate | Einhalt | vorig | folgend |
Die Geschichte Die Versuchung der stillen Veronika fängt mit einem Prolog an. Der Ton ist geheimnisvoll und vage, was schon im ersten Satz deutlich wird.
Irgendwo muß man zwei Stimmen hören. Vielleicht liegen sie bloß wie stumm auf den Blättern eines Tagebuchs nebeneinander und ineinander, die dunkle, tiefe, plötzlich mit einem Sprung um sich selbst gestellte Stimme der Frau, wie die Seiten es fügen, von der weichen, weiten, gedehnten Stimme des Mannes umschlossen, von dieser verästelt, unfertig liegen gebliebenen Stimme, zwischen der das, was sie noch nicht zu bedecken Zeit fand, hervorschaut. Vielleicht auch dies nicht. Vielleicht aber gibt es irgendwo in der Welt einen Punkt, wohin diese zwei, überall sonst aus der matten Verwirrung der alltäglichen Geräusche sich kaum heraushebenden Stimmen wie zwei Strahlen schießen und sich in einander schlingen, irgendwo, vielleicht sollte man diesen Punkt suchen wollen, dessen Nähe man hier nur an einer Unruhe gewahrt wie die Bewegung einer Musik, die noch nicht hörbar, sich schon mit schweren unklaren Falten in dem undurchrissenen Vorhang der Ferne abdrückt. Vielleicht daß diese Stücke hier dann an einander sprängen, aus ihrer Krankheit und Schwäche hinweg ins Klare, Tagfeste, Aufgerichtete. (S. 183) [1]
Wörter wie “irgendwo”, ein vier Mal wiederholtes “vielleicht” machen es dem Leser nicht leicht, auf Anhieb sich schlüssig zu werden. Offenbar will der Autor dem Leser als Vorankündigung die Botschaft überbringen, das er hier und im Folgenden nichts festlegen möchte, ja, dass “Unbestimmtheit” das Schlüsselwort ist, das den Leser aufmerksam darauf macht, dass er sich mit dem Autor in den Grenzbereich der Sprache begibt.[2] Wir scheinen in eine besondere Lage versetzt zu werden, ein Gebiet des “Noch- nicht”, von Schröder zu Recht als “Schwebe-Zustand” bezeichnet.[3]
Es ist ein Vorspann, in dem anscheinend ein den weiteren Text bestimmender Gedanke vorausgeschickt wird, so dass der Leser ahnt, dass die Liebe zweier Menschen an erster Stelle stehen wird. Wie dem auch sei, es wird ein Vorhang aufgezogen, hinter dem eine Welt von Licht und Geräuschen sich auftut. Wo man hinsieht, erscheinen zögernd zwei Gestalten: eine Frau – ein Mann – vernehmbar sind nur Stimmen. Wir werden dazu aufgefordert, den “Punkt” zu suchen, “irgendwo” in der Welt, “wohin diese zwei, überall sonst aus der matten Verwirrung der alltäglichen Geräusche sich kaum heraushebende Stimmen wie zwei Strahlen schießen und sich in einander schlingen”. Dann folgt “Kreisendes!” als plötzlicher Anfang. Johannes steht im Mittelpunkt. Das Ausrufezeichen deutet auf heftige seelische Regungen hin. Es ist, alsob der Erzähler den Leser wachrütteln möchte. Auch in diesem Absatz gibt es wie in dem Prolog Vorausdeutendes, in dem verschlüsselt aus der Perspektive des Johannes das Begriffspaar Phantasie und Wirklichkeit auftaucht, sich aber enigmatisch zu entfalten scheint. Die Vermischung von Phantasie und Wirklichkeit, die mit einem dünnen Faden verbunden zu sein scheinen, ist offenbar darauf gerichtet, ein Unfassbares trotz Schmerz, fast körperlichen Schmerzes, in die Wirklichkeit hineinzuführen. Etwas, das wohl unter einen Nenner zu bringen ist mit dem, was der Prolog schon angekündigt hat.
Der Text besteht aus drei Teilen: A, B und C. Der A-Teil folgt nach dem Prolog. In dem A-Teil wird das Paar Veronika-Johannes dem Leser vorgestellt. Sie sprechen über ihre inneren Empfindungen, doch während sie so miteinander sprechen, wird die Entfernung immer größer, da sie einander nicht gut verstehen. So spricht Veronika über Profanitäten, wo Johannes der christliche Mensch zu sein scheint. Jeder vertritt eine eigene Welt: Veronika die Welt der Märchen und des Tierischen und Johannes die Welt des Göttlichen. Trotz Unüberbrückbarem wissen die beide, dass sie sich lieben. Oder liegt in ihnen der Zwang der Liebe? Leider sind sie nur fähig, in Gleichnissen zu sprechen. Eine “normale” Kommunikation scheint ihnen unmöglich zu sein oder trauen sie sich nicht, sich konkreter zu fassen? Demeter taucht öfter als “Dritter” in dem von Veronika Erzählten auf. So vergleicht Veronika ihn und später den Johannes mit einem Hahn.
Der B-Teil, die Mitte des Textes, fängt an mit den Sätzen:
Johannes; von da an fühlte Johannes eine furchtbare Leichtigkeit, an dem was er wollte, haarscharf noch vorbei zu greifen. Man kennt manchmal etwas nicht, dass man im Dunkeln will, aber man weiß, daß man es verfehlen wird; man lebt dann sein Leben dahin wie in einem versperrten Zimmer, in dem man sich fürchtet. (S. 191)
Dieser Teil handelt von Johannes’ Werben um Veronika. Er zeigt sich sogar bereit, für sie wie ein Tier zu werden, was ihm doch im Grunde wesensfremd sein muss. Das Tierische ist auch weiterhin ein bestimmender Faktor in den Träumereien Veronikas. Johannes bemüht sich, sich diesen Träumen zu fügen:
Und er mußte denken, wenn sie vor ihm aus dem Dunkel des Hauses auftauchte, das sich hinter ihr ganz sonderbar ohne Bewegung wieder zusammenschloß, und mit ihrer machtvollen, ungewöhnlichen Sinnlichkeit – wie mit einer fremden Krankheit behaftet – an ihm vorüberglitt, er mußte dann jedes Mal denken, daß sie ihn wie ein Tier empfand. Er fühlte es unbegreiflich und furchtbar in seiner größeren Wirklichkeit, als an die er zu Anfang geglaubt hatte. (S. 192)
Damit schließt der B-Teil sich dem A-Teil an. Neu ist, dass der fromme Johannes sich körperlicher Wollust hinzugeben scheint. Wie dem auch sei, das Schweigen wird stärker: “aber sie sprachen kaum mehr mit einander”. (S. 193) Dieses Moment liegt wie ein Stein auf der Geschichte. Die Gefühle der “Liebenden” nehmen zu, ihre Unruhe wächst. Sie finden keine Worte. Es ist, als steigere sich in Enge und Schwüle Ungesagtes, das unsagbar ist. Der Leser erfährt es gleichsam an Hand von Fragmenten, kleinen Zwischenfällen, die sich zeitlich nicht bestimmen lassen. Nach dem Abschnitt, der mit “Johannes; von da an fühlte Johannes eine furchtbare Leichtigkeit, an dem was er wollte, haarscharf noch vorbei zu greifen. Man kennt manchmal etwas nicht, dass man im Dunkeln will, aber man weiß, daß man es verfehlen wird; man lebt dann sein Leben dahin wie in einem versperrten Zimmer, in dem man sich fürchtet.” (S. 191) anfängt, wirft der Text signalhaft ein Licht auf Veronika: “Veronika hatte plötzlich einen Vogel rufen gehört und einen andern ihm antworten. Und damit endete es. Mit diesem kleinen zufälligen Ereignis, wie das so manchmal geht, endete es und es begann das was nur mehr für sie war”. (S. 193) Im B-Teil des Textes ist dieser Neu-Anfang bedeutungsschwer. Er führt in voller Vehemenz zu einer Intensivierung der vorhin angekündigten Motive: das Unsagbare, verknüpft mit “Tiersein”, mit Schmerz und Geheimnis der Gefühle, konzentriert sich immer schärfer auf Körperlich-Erotisches, das mit Schrecken und Abschied einerseits, in Nacktheit und durch die Entdeckung des eigenen Körpers anderseits endet. Fragmentarisch sind auch an diesem Höhepunkt die Geschehnisse, die sich jeglicher zeitlicher Bestimmung entziehen. Schwer wiegt am Ende dieses B-Teils der Abschied von Johannes, der – wenn auch zeitlich unbestimmbar – sich deutlich in der Erzählgegenwart wie ein “Heute” zu erkennen gibt: “und nur als diese seltsame Bewegung in ihr entstand, die sich heute erfüllte, hatte sie daran gedacht, ob es nun nicht vielleicht wieder wie vordem werden könnte”. (S. 196) Die Eindringlichkeit der Vorstellung führt dazu, dass das Erinnerte in Veronikas Ohren wie Gegenwärtiges klingt. Die Ahnung des “Auseinanderfallens” einer Liebe, noch bevor sie begonnen hat, führt zu dem Abschied, der “wie ein Schnitt durch die Zeit” Veronikas Leben von da an ändert.
Dann folgt der C-Teil, die Zeit nach dem Abschied, wobei der Leser mit Veronika alleine ist. Wie in einem Neuanfang heißt es:
Die Sonne war untergegangen; Veronika ging nachdenklich und allein den Weg zurück; zwischen Wiesen und Feldern. Wie aus einer zerbrochen am Boden liegenden Hülle war ihr aus diesem Abschied ein Gefühl von sich emporgestiegen; es war plötzlich so fest, daß sie sich wie ein Messer in dem Leben dieses andern Menschen fühlte. (S. 201)
Veronika geht leicht vor Freude durch die Felder und Wiesen. Und alleine in ihrem Zimmer zündet sie alle Kerzen an und betrachtet das Photo des Johannes und den Sessel, in dem er immer saß. Sie fragt sich, wo Johannes jetzt sein könnte, auf seiner Reise in den Tod. Ein Tod, der für Veronika fast eine Befreiung zu sein scheint. Dann kleidet sie sich aus. Diese Auskleidungsszene als Schlussszene vereint alle Motive des vorhergehenden Textes und schließt sie zusammen. Zuallerletzt trifft der Brief von Johannes ein, mit der Mitteilung, dass er sich nicht getötet hat. Johannes hat “auf die Straße hinaus gefunden”. Dieser Satz geht Veronika immer von neuem durch den Kopf. Doch scheint sie weiterhin unberührt. Sie geht nachts durch das Haus; aufgeregt durch die Erinnerung an “jene Nacht”, findet sie nicht “in die einfache Wirklichkeit”. Sie begegnet Demeter noch mal auf der Treppe. Sie grüßen einander mit belanglosen Worten, “ohne noch gesprochen zu haben”. Wie Schemen gehen sie aneinander vorbei – so klingt das Lied aus, als lebten die Drei wie “Gestorbene” weiter.
Wenn man nun die in dem Text verborgenen Sinnbilder – das Labyrinth der unübersehbaren Gedankenvorgänge an Hand der Personendarstellung näher betrachtet, so fällt auf, dass ein
Handlungsverlauf in einem konventionellen Sinne sich schwer entdecken lässt. Wie schon
Musil in einem Brief an Robert Lejeune[4] warnte und wie auch der Prolog in einer mystischen Formel schon vermuten ließ, kann von einer unterstellten Wirklichkeit kaum die Rede sein. Die Frage wäre wohl eher, wie Schritt um Schritt das “Undefinierbare” sich in den Köpfen der Protagonisten manifestiert. Es liegt auf der Hand, dass “Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand”[5] die treibende Kraft ist, durch die zögernd, aber vehement am Anfang nur noch spürbare Sehnsüchte im Bewusstsein der Hauptgestalten zu erkennen sind. Von der Sehnsucht nach Ganzheit[6] zeugt schon der Ausruf “Kreisendes”, mit dem nach dem Prolog die Neugier des Lesers gleichsam geweckt wird. Das “Kreisende” als Ganzheitsvorstellung – als Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach Ganzheit – wird hier nicht ohne Grund dem Text vorangestellt. Es wäre die Frage, ob im Anschluss an Seidels Unterstellung, dass es in Musils Werken sich immer mehr um “die Konzeption eines einheitsstiftenden ‘anderen Zustands’ “[7] handelt, sich dies in der Erzählung Veronika als Grundthema bestätigt, vor allem aber sich als Konstante (nämlich die verlorene Einheit des Männlichen und Weiblichen sowohl in körperlicher wie in geistiger Form) beschreiben ließe. Johannes befindet sich in einer verzweifelten Lage, was durch das zweimal “Kreisendes” illustriert wird. Es kann behauptet werden, dass Johannes sich in einem Teufelskreis befindet. Einen Ausweg gibt es also nicht: “ Kreisendes […] daß du doch auch außerhalb meiner wärst!” (S. 183) Diese Aussage zeigt den Kern von Johannes’ Problematik. Dieses wiederholte ‘Kreisendes’ lässt die Person Johannes erneut in den Vordergrund treten. Die Anonymität des Prologs schwindet. Auf die unfassbaren Gefühle, wobei der Intellekt scheitert, folgt ein verzweifeltes Flehen, das Unbestimmbare zu konkretisieren. Es zeigt sich in den Worten:
[…] daß du ein Kleid hättest, an dessen Falten ich dich halten könnte. Daß ich mit dir sprechen könnte. Daß ich sagen könnte: du bist Gott, und ein kleines Steinchen unter der Zunge trüge, wenn ich von dir rede, um der größeren Wirklichkeit willen! Daß ich sagen könnte: dir befehl ich mich, du wirst mir helfen, du siehst mir zu, mag ich tun was ich will, etwas von mir liegt reglos und mittelpunktsstill. (S. 183)
Johannes scheint hier als Hauptperson eine existentielle Frage in Worte zu fassen, wobei das angeredete Du nicht festgelegt ist. Die Kommunikation, die er mit Veronika sucht, ist für ihn unzulänglich. Er will ein ‘Etwas’ richtig aussprechen können und Veronika zeigen, was er meint, doch er scheint in seiner Welt befangen zu sein:
[…] ja es gab in ihm Gefühle, die, wenn seine Worte sie suchten, noch gar keine Gefühle waren, sondern nur als hätte sich etwas in ihm verlängert, mit den Spitzen sich schon hineintauchend, benetzend, seine Furcht, seine Stille, seine Schweigsamkeit, wie die Dinge manchmal sich verlängern, an fieberhellen Frühlingstagen, wenn ihre Schatten über sie hinauskriechen und so still und nach einer Richtung bewegt stehen wie Spiegelbilder im Bach. (S. 184)
Seine Versuche, im Gespräch mit Veronika das Unbestimmbare “fest zu machen”, scheitern an der Unzulänglichkeit der Sprache. Einfach “ich liebe dich” zu sagen, darum geht es ihm nicht. Es geht um eine besondere Liebesauffassung, die offenbar zu einer höheren Erkenntnis führen muss. Oder haben wir es vielleicht mit zwei Jungfrauen zu tun? Ist alles für sie noch neu und pur? Könnten sie letztendlich eine richtige Einheit formen, haben sie keine Erfahrung mit anderen Menschen, keinen Ballast aus der Vergangenheit?[8] Auf jeden Fall hat Johannes das Bedürfnis, Gefühle zu konkretisieren: “Etwas” außerhalb der eigenen Erlebniswelt möchte er im Griff haben. Auch Veronika als Gesprächspartner möchte ihre Gefühle benennen – so entwickelt sich scheinbar ein Gespräch. Es scheint sich um Gesprächsbrocken zu handeln; “und … und …. einmal”, zeitlich auseinander gerückt, kreisend um eine Mitte, in dem Verlangen, Ahnungen in Worte zu fassen:
Ideale seien es, meinte er schon damals, nicht Trübungen oder Zeichen irgendeiner seelischen Ungesundheit, sondern Ahnungen eines Ganzen, irgendwo her verfrüht und gelänge es, sie richtig zusammen zu fügen, stünde splitternd wie von einem Schlage etwas da von den feinsten Verästlungen der Gedanken bis außen in die Wipfel der Bäume empor, und wäre in der kleinsten der Gebärden wie der Wind in den Segeln. (S. 185)
Körperliches Verlangen wird von solchem Ganzheitsverlangen ausgelöst. Nicht unwichtig ist, dass in den Worten der Veronika Demeter regelmäßig auftaucht. Sie vergleicht ihn mit dem Hahn und er hat ihren Kopf gegen sich nach unten gedrückt. Demeter verleiht der Geschichte Struktur, als der “Dritte im Bunde”. Er erfüllt seine Rolle als Widersacher, so dass dialektisch und dialogisch Positionen eingenommen werden. In dem Vergleich von Demeter mit dem Hahn und später von Johannes mit dem Hahn wird die Relevanz der Hahngeschichte deutlich. Sie ist wichtig für den weiteren Verlauf der Geschichte. Das Tiermotiv taucht immer wieder auf. So könnte behauptet werden, dass das “Tierische” integraler Bestandteil der Geschichte ist. Wesentlich ist von Anfang bis zum Ende die Opposition Mann und Frau. Hat der Leser es mit einer völligen Abstraktion zu tun? Obwohl die zwei Menschen Veronika und Johannes, wie für sich zu sprechen scheinen, folgt letztendlich doch immer wieder ein “Gespräch”, kann letztenendes von einem Dialog die Rede sein. Die Monologe, die als getrennten Größen erscheinen, werden auf Grund der Kernproblematik “dialogisch”. Demeter als der große “Abwesende” spielt eine wichtige Rolle im Schatten. Er ist Teil des Gedankenspiels der Veronika und der Überlegungen des Johannes. Er ist imstande, die Bewegung der Rede zu ändern und so ist er wesentlich für den Gang der Geschichte. Plötzlich wird Johannes mit einem Tier verglichen:
Damals sagtest du nachher zu mir, daß du Priester werden wolltest…. Da begriff ich plötzlich: nicht Demeter, sondern du bist das Tier…. (S. 187)
Ein Tier ist ein autonomes Wesen, dass nur für sich existiert.
Ein Priester hat etwas von einem Tier! Diese Leere, wo andre sich selbst haben. Diese Milde, die man schon an den Kleidern riecht. Diese leere Milde, die das Geschehen einen Augenblick lang aufgehäuft hält, wie ein Sieb, das dann gleich wieder leerläuft. Man müßte aus ihr es zu machen suchen. Ich wurde so glücklich, als ich das erkannte… (S. 187)
Ein Priester besitzt sozusagen nicht sich selbst und erfüllt eine Rolle. Wenn Johannes eine solche Rolle erfüllt, sind die zwei einander nicht gleich und wird kein richtiger Kontakt hergestellt. So lebt Johannes und nicht Demeter in einer schrecklichen weiten Leere. Was immer wieder spürbar ist, ist das “Missverstehen” in einem gestörten Dialog. Veronika beschäftigt sich in den Tiergeschichten mehr oder weniger mit Perversitäten und damit hat der fromme Johannes nichts zu tun. Das “Missverstehen” der Veronika Johannes gegenüber kommt mehrmals vor und bildet so, mehr oder weniger, die Grundlage. Es ist wie eine Konstante.
“Priester” oder “Tier”–Sein liegen für Veronika nicht weit auseinander. Die Unerreichbarkeit des Priesters ist erträglich, denn Priester haben nun mal eine Rolle zu erfüllen, sie sind der Kirche gegenüber verpflichtet. Man weiß, dass man als Frau “im Abseits steht”:
Du wolltest ja Priester werden, warum?! Ich dachte mir, weil… weil du dann für mich kein Mann bist. Hör.. hör doch: Demeter sagte ganz unvermittelt zu mir: < Der dort wird dich nicht heiraten und der dort nicht; du wirst hier bleiben und alt werden wie die Tante…> Ja verstehst du nicht, da bekam ich Angst? Ist dir denn nicht auch so? Ich hätte nie daran gedacht, daß die Tante ein Mensch sei. Sie erschien mir nie als ein Mann oder eine Frau. (S. 188)
Die Unerreichbarkeit des Mannes ist anders, denn er ist niemandem verpflichtet, sondern frei. Er ist sehr nah, doch auch weit weg. Das Mensch-Sein (in der Mann-Frau-Teilung) steht jetzt im Wege. Außer Veronikas Faszination für das Tier wird sie auch von einem Moment fasziniert: als Demeter Johannes geschlagen hat.
Alles, was ich geredet habe, ist es nicht… Ich kenne es selbst nicht… Aber sag du mir doch, was in dir vor sich ging, sag mir, wie das ist, mit dieser lächelnden, süßen Angst…?! Ganz unpersönlich, ganz bis auf irgendeine nackte, warme Weichheit ausgekleidet erschienst du mir damals, als dich Demeter schlug. (S. 188)
Wie für Johannes ist es auch für Veronika schwierig zu sagen, was sie meint. Immer wieder ist von der Unzulänglichkeit der Sprache die Rede. Es hat zur Folge, dass Veronika und Johannes einander nicht ergründen können, so dass keine Einheit entsteht. Ihr “Anders-Sein” (Mann-Frau) führt zu Blockaden und bildet im Sinne der Kernproblematik das Zentrum des Textes. In dem sensiblen Zustand ist Johannes am meisten er selbst, das heißt, ohne Maske oder Vorwand. Gerade zu dieser sensiblen Figur fühlt Veronika sich angezogen. In dem Zustand ihres “Anders-Sein” kann sie ihm am nächsten sein. Es ist diese Figur, mit der sie eine Einheit, ein Untrennbares bilden möchte. Veronika kommt wieder auf die Priester-Geschichte zurück.
Der Leser hat stark den Eindruck, dass zur Erörterung des Kernproblems Johannes eine schwebende Figur bleiben muss. Beide sind als Mann und Frau schwankende Figuren. Sie erkennt nicht, dass Johannes vielleicht eine göttliche Vokation hatte. Sie denkt hier sehr “irdisch” und selbstisch. Im Kontrast dazu wird die Natur Demeters deutlich. Er nutzt ihre Angst aus, denn irgendwie ahnt er, dass er sie nicht auf “normalen” Wegen erobern kann. Die Frage wäre, welche Implikation die ganze Problematik der Mann-Frau-Relation (als Opposition und ‘unio mystica’) in der Bezeichnung der Tante hat: “Sie erschien mir nie als ein Mann oder eine Frau.”
Und oft fühle ich dann unser Haus, tasteten diese Worte, seine Finsternis mit den knarrenden Treppen und den klagenden Fenstern, den Winkel und ragenden Schränken und manchmal irgendwo bei einem hohen, kleinen Fenster liegt, wie aus einem geneigten Eimer langsam sickernd ausgegossen, und eine Angst als stünde einer mit einer Laterne dort. (S. 189)
Veronika steht zwischen Johannes und Demeter. Sie hat Mühe, sich innerhalb dieser Relation zurecht zu finden. Sie spricht und scheint “die Worte ängstlich aus dem Dunkel zu holen”. In ihrem Gespräch mit Johannes, das wie ein Bekenntnis anmutet, fährt Veronika fort:
Und Demeter sagte: ‘Es ist nicht meine Art, Worte zu machen, das trifft Johannes besser, aber ich versichere dir, es ist manchmal etwas sinnlos Aufgerichtetes in mir, ein Schwanken wie von einem Baum, ein fürchterlicher, ganz unmenschlicher Laut, wie eine Kinderrassel, eine Osterquarre, … ich brauch mich bloß zu beugen, so komme ich mir wie ein Tier vor, …ich möchte manchmal mein Gesicht bemalen…’ Da kam mir vor, als wäre unser Haus eine Welt, in der wir allein sind, eine trübe Welt, in der alles verkrümmt und seltsam wird wie unter Wasser, und es erschien mir beinahe natürlich, das ich Demeters Wunsch nachgeben sollte. Er sagte: ‘es bleibt unter uns und existiert kaum wirklich, da es niemand weiß, es hat keine Beziehungen zur wirklichen Welt, um hinaus gelangen zu können….’ Du darfst nicht glauben, Johannes, daß ich irgend etwas für ihn fühlte. Er tat sich bloß vor mir auf wie ein großer mit Zähnen bewerter Mund, der mich verschlingen konnte, als Mann blieb er mir so fremd wie alle, aber es war ein Hineinströmen in ihn, was ich mir plötzlich vorstellte und zwischen den Lippen in Tropfen wieder zurückfallen, ein Hineingeschlucktwerden wie von einem trinkenden Tier, so teilnahmslos und stumpf... Man möchte manchmal Geschehnisse erleben, wenn man sie bloß als Handlungen tun könnte und mit niemandem und mit nichts. Aber da fielst du mir ein, und ich wußte nichts bestimmtes, aber ich wies Demeter zurück,.. es muß deine Art geben, für das Gleiche, eine gute…” Johannes stammelte: “Was meinst du?” (S. 189)
Weil Demeter Veronikas Tierfaszination kennt, nutzt er diese Kenntnis clever aus. Er weiß dann, dass er eine Chance bei ihr hat, wenn er sich einem Tier gleichstellt. Doch vielleicht kennt er ihre Faszination nicht und so steht er selbst dem Tier nahe. Er könnte dann der Traumprinz Veronikas sein, doch auch dann würde eine Vereinigung nie stattfinden. Veronika liebt nur aus einer Entfernung, doch zugleich hofft sie auf ein Durchbrechen der Barrieren. Das gerade macht sie unsicher. Zuerst gilt Veronikas Faszination einem Demeter, der in der schrecklichen weiten Leere des Unbewussten lebt und dem Irdischen nahe steht. Doch zugleich ist Demeter ihr wesentlich fremd: wesensfremd wie die Nacktheit des Tieres. Gerade die Maske des Mensch-Seins führt sie Johannes zu. In Metaphern versucht Veronika, das von ihr als Ideal Empfundene dem Johannes zu beschreiben:
[…] ich dachte manchmal mitten im Sommer, so muß es sein, wenn man im Schnee liegt, so trostlos wohlig, ohne Boden schwebend zwischen Wärme und Kälte, man möchte aufspringen und erschlafft in ein süßes Verfließen. Wenn du an ihn denkst, fühltst du nicht diese leere, ununterbrochene Schönheit, wohl Licht, Licht in dumpfem Übermaß, wortlos machendes Licht, sinnlos wohltuend auf der Haut, und ein Ächzen und Reiben in den Rinden und ein unaufhörliches leises Sausen in den Blättern… Ist dir nicht, als ob die Schönheit des Lebens, das da in diesem Garten bei uns endet, etwas Flaches, wagrecht Endloses wäre, das einen einschließt und abschneidet wie ein Meer, in dem man versinken würde, wenn man es betreten wollte..?” (S. 189)
War Johannes auf die Mitteilung Veronikas “Da begriff ich plötzlich: nicht Demeter, sondern du bist das Tier….” aufgesprungen (S. 187), so springt jetzt Veronika auf, deren Hände die Worte “ängstlich aus dem Dunkel zu holen” schienen (S. 189). Die Sprache sucht und findet ihren eignen Weg – und Johannes’ Nicht-Verstehen führt Veronika zu der bedeutungsschweren Aussage, die sie und Johannes im Hinblick auf die von Johannes formulierte Kernfrage nach einem “Etwas” im Grunde verbindet:
Sie sagte: ‘Ich habe eine unklare Vorstellung von dem, was man einander sein könnte. Man hat doch Furcht voreinander, selbst du bist, manchmal wenn du sprichst, so hart und fest wie ein Stein, der nach mir schlägt: ich meine aber eine Art, wo man sich ganz in dem auflöst, was man einander ist, und nicht außerdem noch fremd dabei steht und zuhört… Ich weiß es nicht zu erklären, ..das, was du manchmal Gott nennst, ist so…’ (S. 190)
Das Unpersönliche des Tieres, das Unbewusste scheint sich dem Unpersönlichen des Göttlichen zu nähern. Veronika wünscht die große Lücke zwischen den beiden Extremen zu füllen. Sie liegt im Geschehen, in dem Raum, wo Wärme, regellose Nähe spürbar, aber unerfasslich sind. Sie sucht in der äußeren Welt eine Innenwelt zu erfassen. Sie braucht einfach einen Rahmen. Es erweist sich, dass Veronikas Ideal die völlige Vereinigung ist, die Auflösung in einem anderen, dabei soll keine Verwirrung auftreten, sondern Sicherheit, das heißt auch eine Menschwerdung in Vollkommenheit. Doch eine Kluft trennt das “Normale” von dieser Sehnsucht. Trotz Missverständnisse wird Veronikas Liebe für Johannes nochmal bestätigt. Johannes gibt auch zu erkennen, dass er spürt, sei es im Dunkeln, was ihr beider Problem ist.
Und noch einmal wiederholte er seinen Versuch, er sagte: Veronika, ein Mensch, aber manchmal schon ein Wort, eine Wärme, ein Hauch ist wie ein Steinchen in einem Wirbel, das dir plötzlich den Mittelpunkt anzeigt, um den du dich drehst, .. wir müßten gemeinsam etwas tun, dann fänden wir es vielleicht… (S. 191)
Die Suche nach Gemeinsamkeit in einem Akt irdischer Wärme sollte aus dem Teufelskreis erlösen. Da liegt der Mittelpunkt, es ist ihr Gemeinsames. Johannes möchte, dass Veronika ihre Liebe gesteht, damit in der Bestätigung sich zeigt, wonach er sich sehnt. Da er ein problematischer Mensch ist, kann er selber ein solches Geständnis nicht machen. Johannes will auf jeden Fall zusammen mit Veronika die Liebe entdecken. Auf körperliche Liebe wird in der leichten Berührung beim Abschied subtil angespielt. Die Auren begegnen sich. Eine direkte wörtliche Bestätigung bleibt aus. Sie kreisen ständig umeinander, ihre Gedanken und Worte kreisen um die Kernfrage. In diesem Moment fällt plötzlich ein Licht auf Johannes:
Johannes; von da an fühlte Johannes eine furchtbare Leichtigkeit, an dem was er wollte, haarscharf noch vorbei zu greifen. Man kennt manchmal etwas nicht, das man im Dunkeln will, aber man weiß, daß man es verfehlen wird; man lebt dann sein Leben dahin wie in einem versperrten Zimmer, in dem man sich fürchtet. (S. 191)
Es erinnert den Leser an Milan Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (1984), an die Unmacht des Lebens, die sich in Liebe zu veräußern sucht, indem ungleiche Liebespaare einander gegenübergestellt werden. So haben in Kunderas Roman für Sabina, den stärkeren Pol in der Beziehung, in ihrer Kommunikation mit Franz die Worte eine andere Bedeutung als für ihn. Die verschlungene Liebesgeschichte, die mehrmals als Text “gebrochen” wird, gegen den Hintergrund der politischen Verhältnisse rund um den Prager Frühling erinnert nicht nur an Musils Veronika-Geschichte, sondern zeigt in einem anderen zeitlichen Kontext, wie persönliche Schicksale von sprachlichen Äußerungen und Schablonen gesteuert werden, das Handeln bestimmen, und in die Einsamkeit des Ichs führen.
Und einmal zwar war ihm das plötzlich wie eine Begegnung in der Einsamkeit, um die die wirre, regellose Nähe mit einem Schlag fest und wie gewölbt wird. Veronika kam die Treppe herunter, an der unten er wartete; so standen sie vereinzelt in der Dämmerung. Und er dachte gar nicht, daß er von ihr etwas begehren wollte, aber wie wenn sie beide, wie sie da standen, eine Phantasie in einer Krankheit wären, so anders notwendig erschien ihm, daß er da sagte: << Komm, gehen wir zusammen fort.>> Doch sie antwortete etwas, wovon er nur verstand: …nicht lieben… nicht heiraten… ich kann die Tante nicht verlassen. Und noch einmal wiederholte er seinen Versuch, er sagte: << Veronika, ein Mensch, manchmal schon ein Wort, eine Wärme, ein Hauch ist wie ein Steinchen in einem Wirbel, das dir plötzlich den Mittelpunkt anzeigt, um den du dich drehst, .. wir müßten gemeinsam etwas tun, dann fänden wir es vielleicht.” […] “So unpersönlich kann wohl gar kein Mensch sein… ja vielleicht wenn du sterben müßtest”. (S. 191)
Entscheidend an dieser Stelle ist Veronikas “Nein”-sagen und Johannes’ voraussagende Mitteilung: “Ich gehe fort; gewiß, vielleicht werde ich sterben”. (S. 192)
Typisch für die Ambivalenz des Sprechenden ist in diesem Satz das Aufeinanderstoßen von “gewiß” und “vielleicht”. Der Erzähler fügt hinzu: “Aber auch da wußte er, daß es nicht das war, was er meinte”, was die Aussage noch hermetischer macht.
Im folgenden fällt das Hervorheben des Namens Veronika besonders auf:
Er sagte manchmal: Veronika und fühlte an ihrem Namen den Schweiß, der daran haftet, das demütige, rettungslose Hinterhergehen und das feuchtkalte sich mit einer Absonderung Begnügen. Und er mußte an ihren Namen denken, sooft er die kleinen zwei Löckchen über ihrer Stirn vor sich sah, diese kleinen, sorgfältig wie etwas Fremdes an die Stirn geklebten Löckchen, oder ihr Lächeln, manchmal wenn sie bei Tisch saßen und sie die Tante bediente. Und er mußte sie ansehen, sooft Demeter sprach; aber er stieß immer wieder auf etwas, das ihn nicht verstehen ließ, wie ein Mensch gleich ihr zum Mittelpunkt seines leidenschaftlichen Entschlusses geworden sein konnte. Und wenn er nachdachte, war schon in seiner frühesten Erinnerung etwas längst Verflackertes wie der Duft verlöschter Kerzen um sie, etwas Umgangenes wie die Besuchszimmer im Haus, die reglos unter Leinenbezügen und hinter geschlossenen Vorhängen schliefen. (S. 192)
Johannes denkt an Veronika und wie sie sich geistig und körperlich von ihm weg bewegt. Er möchte, dass sie ihm näher kommt, kann aber selber den Schritt nicht machen. Er will, dass sie die Barrieren durchbricht und wirft ihr vielleicht etwas vor, das auf ihn selbst zutrifft. Sollte der Leser schon am Anfang des Textes sich gefragt haben, in wiefern der Titel Die Versuchung der stillen Veronika im Geheimen den Hinweis auf die heilige Veronika enthält, so ist an dieser Stelle die Andeutung “und fühlte an ihrem Namen den Schweiß” faszinierend. Hier bindet sich an ihren Namen eine unausgesprochene, für Johannes (vielleicht auch als verfehlter Priester?) nur geahnte Heiligkeit, die sich in den kleinen Löckchen auf Veronikas Stirn zu verdinglichen scheint. Dies wird auch in der Metapher “der Duft verlöschter Kerzen”, als etwas Fremdes, “Umgangenes” zum Ausdruck gebracht. Wenn Demeter spricht, muss er sie ansehen. Seine Nähe stört ihn? Ist Johannes eifersüchtig, hat er wohl Angst, dass Demeter ihm Veronika nehmen wird? Er spürt, dass die direkte Art des Demeter eine Bedrohung bildet, wo sein Verhältnis zu Veronika schwebend ist und bleibt. So unfassbar Johannes für Veronika bleibt, bleibt auch Veronika für ihn. Die Welten bleiben getrennt. Immer folgt Veronikas Ablehnung. Dann folgt ein Übergang:
Veronika hatte plötzlich einen Vogel rufen gehört und einen andern ihm antworten. Und damit endete es. Mit diesem kleinen zufälligen Ereignis, wie das so manchmal geht, endete es und es begann das, was nur mehr für sie war. (S. 193)
Das Signal des Vogels führt einen bedeutenden Wechsel herbei. Vögel treten wie Boten auf, die Macht haben, das Schicksal der Menschen zu verändern. Wenn Veronika das Rufen und Antworten hört, geschieht etwas in ihr. Etwas, das ihr Leben verändert, fortan lebt sie anders, gleichsam mit einem neuen Bewusstsein. Sehr bezeichnend ist hier: Es endete und es begann das, was nur mehr für sie war. Als Mitte des Textes, zeitlich unbestimmbar, liegt der Punkt, wo – wie es im Prolog heißt – eine Musik hörbar wird, die ins Innere führt. Veronikas Aufmerksamkeit hat anfangs Johannes gegolten. Hat sie sich letztendlich mit seiner Unerreichbarkeit abgefunden? Wurde seine Unsicherheit zum Verhängnis? Beide, sie und Johannes, haben sich nicht fähig gezeigt, den Weg zueinander zu finden, ihre unbestimmten Sehnsüchte in Taten umzusetzen. Da entschließt Veronika sich, bewusst oder unbewusst, sich von Johannes zu entfernen und ihr selbst näher zu sein. Der Vogelruf hat, wie in Musils Erzählung Die Amsel, etwas in ihr freigesetzt, eine Erinnerung, “heiß und lebendig”:
Veronika war erschrocken; sie merkte erst nachträglich, wie eigentümlich sie erschrocken war, an der Röte, die ihr jetzt ins Gesicht stieg, und an einer Erinnerung, die mit einemmal, über viele Jahre hinweg, wieder da war, unvorbereitet, heiß und lebendig. Es waren in der letzten Zeit allerdings so viele Erinnerungen gekommen und es war ihr, als ob sie diesen Pfiff schon in der Nacht vorher gehört hätte und in der Nacht vor vorher und in einer Nacht vor vierzehn Tagen. Und ihr war auch, als ob sie sich irgendwann früher schon mit dieser Berührung gequält hätte, vielleicht im Schlafe. Sie fielen ihr ein in der letzten Zeit, diese sonderbaren Erinnerungen, immer wieder, sie fielen links und rechts von etwas in ihr ein, davor und dahinter, wie nach einem Ziel ziehende Schwärme, ihre ganze Kindheit, diesmal aber wußte sie mit einer fast unnatürlichen Gewißheit, daß es das Richtige selbst war. Es war eine Erinnerung, die sie mit einemmal erkannte, über viele Jahre hinweg, endlich, unzusammenhängend, heiß und noch lebendig. (S. 193)
Die Erinnerung, die ein Er-Innern ist, bedeutet eine Wende. Es führt Veronika zurück in die Kindheit. Wie in Rilkes Malte-Legende des Verlorenen Sohns kommt diese Kindheit ihr “unzusammenhängend”, aber zugleich “heiß und lebendig” vor – das Vage von Ahnungen, die “als vergangen galten”, was sie – wie es in Rilkes Legende heißt – “nahezu zukünftig” macht. Die rückgewandte Zukunft, die bei Rilke eine Rückkehr ist “um nicht geliebt zu werden” ist in Veronikas Geschichte[9], wie der Pfiff des Vogels, eine Herausforderung, das Vergangene auf sich zu nehmen.
Auffallend ist, dass hier das Tiermotiv wieder auftaucht. Immer deutlicher scheint es, dass das “Tierische” integraler Bestandteil von Veronikas Bewusstwerdung ist. Dabei spielt Demeter als “Widersacher”, manchmal auch als der große, abwesende “Dritte” seine Rolle im Schatten. Assoziativ ist er Teil des Gedankenspiels der Veronika.
Es bleibt ein Rätsel, worüber Veronika erschrocken ist, aber eines scheint deutlich zu sein und zwar dass Veronika im Vogelruf etwas Unfassbares entgegenkommt, das sie aus dem Alltäglichen wegführt. So scheint es allerdings. Es steigt eine Emotion in ihr auf, so wie Emotionen unmittelbar auftauchen können. In Veronika finden Prozesse statt, über die sie keine Macht hat. Bilder tauchen aus dem Unterbewussten auf, “wie nach einem Ziel ziehende Schwärme”. Primäre Sinneswahrnehmungen (Hören, Spüren, Riechen) weisen auf ein Unaussprechbares hin, das sie verwirrt. Es ist anzunehmen, dass die Erinnerungen mit Johannes zusammenhängen, Veronika aber zugleich auf sich zurückwerfen, auf die Entdeckung des eignen Ichs. Ein “Etwas”, das Johannes als “Gott” zu bestimmen suchte, wird nun plötzlich wie der Ruf des Vogels, wie das Geräusch aus einer Ferne im Bild der Kindheit freigesetzt. Alles Unbestimmbare, eine ungewöhnliche Sinnlichkeit wird als früheste Erinnerung, als eine Art Vision im Bild des Hundes zusammengeballt. In ihrem Tagträumen erscheint eine Märchenwelt, mit Riesen, Tieren; eingehüllt von Geräuschen, von Haar und Fell, spürt sie eine furchtbare Fülle, die Seligkeit des Unsagbaren in einem körperlich-sinnlichen Fühlen.
Als sie dann lange danach die Augen wieder öffnete, war alles wie früher, nur der Hund stand jetzt neben ihr und sah sie an. Und da bemerkte sie mit einemmal, daß sich lautlos etwas Spitzes, Rotes lustweh Gekrümmtes aus seinem meerschaumgelben Vlies hervorgeschoben hatte, und in dem Augenblick, wo sie sich jetzt aufrichten wollte, spürte sie die lauwarme, zuckende Berührung seiner Zunge in ihrem Gesicht. Und da war sie so eigentümlich gelähmt gewesen, wie… wie wenn sie selbst auch ein Tier wäre, und trotz der abscheulichen Angst, die sie empfand, duckte sich etwas ganz heiß in ihr zusammen, als ob jetzt und jetzt… wie Vogelschreien und Flügelflatter in einer Hecke, bis es still wird und weich im Laut wie von Federn, die übereinandergleiten…. (S. 194)
Die Wiederkehr des Tierischen, um die Veronikas Empfindung sich dauernd dreht, wäre als Tabu-Zone näher zu bestimmen im Hinblick auf Veronikas Vorstoß ins Reich einer traumhaften Wirklichkeit. Im Unfassbaren des tierischen Wesens, einer triebhaften Sinnlichkeit und “Gott” werden zwei nur scheinbar unvereinbare Sachen zueinander gebracht: als Verbindendes wird ein “Drittes” gesucht.
Das alles war früher. Es ruft sie aber zugleich in die Gegenwart zurück: das Früher erscheint im Jetzt. Die sinnliche Erregung des Hundes scheint mit der Rolle des Tieres Eintritt in ein neues Leben zu bedeuten. Veronikas Fixierung auf autonome natürliche Wesen bringt sie mit dem Körperlichen in Berührung, setzt das eigene Ich frei. Gerade in dem Moment erinnert sie sich wieder an Johannes – an vergangene Jahre: Und immer noch war sie erschrocken, wie damals. Es war etwas verloren, bevor es da gewesen:
Und es mußte bloß irgendwann einmal gewesen sein, daß sie dem Leben näher stand und es deutlicher spürte, wie mit den Händen oder wie am eigenen Leibe, aber schon lange hatte sie nicht mehr gewußt, wie das war, und hatte nur gewußt, daß seither etwas gekommen sein mußte, was es verdeckte. Und hatte nicht gewußt, was es war, ob ein Traum oder eine Angst im Wachen, und ob sie vor etwas erschrocken war, das sie gesehen hatte, oder vor ihren eigenen Augen; bis heute. Denn inzwischen hatte sich ihr schwaches alltägliches Leben über diese Eindrücke gelegt und hatte sie verwischt wie ein matter, dauernder Wind Spuren im Sand; nur mehr seine Eintönigkeit hatte in ihrer Seele geklungen, wie ein leise auf und ab schwellendes Summen. Sie kannte keine starken Freuden mehr und kein starkes Leid, nichts, das sich merklich oder bleibend aus dem übrigen herausgehoben hätte, und allmählich war ihr ihr Leben immer undeutlicher geworden. […] Die Dinge traten weiter und weiter zurück und verloren ihr Gesicht und auch ihr Gefühl von sich selbst sank immer tiefer in die Ferne. Es blieb ein leerer, ungeheurer Raum dazwischen und in diesem lebte ihr Körper; er sah die Dinge um sich, er lächelte, er lebte, aber alles geschah so beziehungslos und häufig kroch lautlos ein zäher Ekel durch diese Welt, der alle Gefühle wie mit einer Teermaske verschmierte.
(S. 195)
Veronika vermisst die Bindung an das Leben. Ihr Leben steht im Ungewissen. Sie ist sich dessen bewusst, ohne es konkret fassen zu können. Sie weiß, dass etwas ihr Leben zudeckt, doch sie weiß nicht was. Durch den Dauerzustand bleibt alles im Grauen, Eintönigen stecken. Ein Verlangen nach Entgrenzung führt paradoxaler Weise zu der Leere des Raumes, in dem die Tage “einer wie der andere” dahingehen. Ekel deckt zu, ist eine Form der Verdrängung. Während all dieser Jahre, in denen sie beziehungslos durch das Leben ging, suchend einen Sinn, quält sie “etwas Wunderbares, dass dann sein müßte, wie die nahe unter dem Bewußtsein treibende Erinnerung an eine wichtige vergessene Sache. Und es begann dies alles damals, als Johannes zurückkehrte und ihr gleich im ersten Augenblick einfiel, ohne daß sie wußte wozu, wie Demeter ihn einst schlug und Johannes gelächelt hatte” (S. 196). Von diesem Moment an führt das Gegensatzpaar “Vergessen-Erinnern” zu dem “erinnerten Vergessen”. Es ist die Nahtstelle, an der sie in der Person des Johannes ein Geheimnis spürt, das in ihr selbst schlummert, jedoch nicht zur Sprache werden kann.
Es war ihr seither, als sei einer gekommen, der das besaß, was ihr fehlte, und ginge damit still durch die verdämmernde Einöde ihres Lebens. Es war nur, daß er ging und die Dinge vor ihren Augen sich zögernd zu ordnen begannen, wenn er daraufsah; es kam ihr vor, manchmal wenn er über sich erschrocken lächelte, als ob er die Welt einatmen und im Leibe halten und von innen spüren könnte, und wenn er sie dann wieder ganz sacht und vorsichtig vor sich hinstellte, erschien er ihr wie ein Künstler, der einsam für sich mit fliegenden Reifen arbeitet; es war nicht mehr. Es tat ihr bloß weh, mit einer blinden Eindringlichkeit der Vorstellung, wie schön alles in seinen Augen vielleicht war, sie war eifersüchtig auf etwas, das er bloß vielleicht fühlte. (S. 196)
Besitzt Johannes das, was ihr fehlt, vielleicht Glück? Dass er damit still durch ihr Leben geht, kennzeichnet seine Persönlichkeit. Er leidet lieber als dass er seine Gefühle gesteht. Er äußert sich zwar, aber sagt nie richtig, worauf es ihm ankommt. So bleibt auch er in seiner eigenen Welt. Auf jeden Fall bedeutet Johannes viel für sie. Sie glaubt auch, dass er seine Gefühle unter Kontrolle hat, vielleicht im Gegensatz zu ihr. In ihrer Suche nach Harmonie bemerkt sie nicht, dass Johannes genauso unsicher wie sie ist. Sie hofft durch Johannes, das “Wunderbare” zu erfahren, das vielleicht “Liebe” heißt. Sie möchte in seine Welt gelangen. Es quält sie aber weiterhin eine Erinnerung – es verlangt in ihr nach einem Verlorenen, das nur geahnt werden kann:
Und damals geschah es auch, daß ihr alle andern Erinnerungen einzufallen begannen bis auf die eine. Sie kamen alle und sie wußte nicht warum und fühlte nur an irgend etwas, daß eine noch fehlte und daß es nur diese eine war, um deretwillen alle andern kamen. Und es bildete sich in ihr die Vorstellung, daß Johannes ihr dazu helfen könnte und daß ihr ganzes Leben davon abhinge, daß sie diese eine gewinne. Und sie wußte auch, daß es nicht eine Kraft war, was sie so fühlte, sondern seine Stille, seine Schwäche, diese stille, unverwundbare Schwäche, die wie ein weiter Raum hinter ihm lag, in dem er mit allem, was ihm geschah, allein war. Aber weiter konnte sie es nicht finden und es beunruhigte sie und sie litt, weil ihr immer, wenn sie schon nahe daran zu sein glaubte, davor wieder ein Tier einfiel; es fielen ihr häufig Tiere ein oder Demeter, wenn sie an Johannes dachte, und ihr ahnte, daß sie einen gemeinsamen Feind und Versucher hatten, Demeter, dessen Vorstellung wie ein großes wucherndes Gewächs vor ihrer Erinnerung lag und deren Kräfte an sich sog. Und sie wußte nicht, ob das alles in dieser Erinnerung seinen Grund hatte, die sie nicht mehr kannte, oder in einem Sinn, der sich vor ihr erst bilden sollte. War das Liebe? (S. 197)
In ihrer Unsicherheit sucht sie Sicherheit im Unsicheren und Geahnten. Instinktiv spürt sie, dass die Erinnerung wichtig ist. Das Unfassliche der gespürten Sinnlichkeit, die im Erinnern mit Demeter assoziiert wird, ohne dass Veronika diese im Unterbewussten wirkende Verknüpfung versteht, führt zu der rätselhaften Schlussfolgerung: “[…] es fielen ihr häufig Tiere ein oder Demeter, wenn sie an Johannes dachte, und ihr ahnte, daß sie einen gemeinsamen Feind und Versucher hatten, Demeter […]” Dieser Grundgedanke umschließt den ganzen Bau ihres Denkens. In allem herrscht die Frage vor, in welchen Rollen Demeter und Johannes in ihrer Erinnerung einander in dem Verhältnis zu ihr gegenüberstehen. Offenbar vertreten sie zwei Extreme, die in Veronikas Denken unvereinbar sind – in ihrer Verbindung aber “Liebe” bedeuten. Dann folgt der Abschied.
Und da nun, jetzt, als der Abschied schon unwiderruflich zwischen ihnen aufgerichtet stand und mit zwischen ihnen den letzten Weg ging, war es geschehen, daß plötzlich, mit voller Bestimmtheit, in Veronika auch diese verlorenste Erinnerung emporsprang. Sie fühlte nur, daß sie es sei, und wußte nicht woran und war ein wenig enttäuscht, weil sie an nichts ihres Inhalts erkannte, warum sie es sei; und fand sich nur wie in einer erlösenden Kühle. (S. 198)
Die Erinnerung kommt beim Abschied in Veronika hoch – sprudelt auf wie eine Quelle. Vermutlich erinnert Veronika sich an einen anderen Abschied von Johannes.[10] Im Scheiden werden öfters Weichen gestellt. Beim Abschied von Johannes erfährt sie in erhöhtem Maße sich selbst als “erlösende Kühle”. Hier stößt sie an eine Grenze. Hier endet ein Lebenskapitel, in dem sie ein “altes Ich” gleichsam zurücklässt. Oder hat sie ein Ich wiedergefunden, das sie in den Jahren verloren hatte? Jedenfalls scheint sich ihr Empfinden immer stärker auf eine Innenwelt zu konzentrieren – insofern bedeutet der Abschied ein Ende, alsob aus einer Krankheit hinweg etwas ins Klare sich bewegt. Johannes’ Fortgang legt in ihr etwas “pfeilerlos Steigendes” (S. 199), “endlos Gehobenes” aus.
Das Undurchsichtige, das bisher wie ein dunkler Nebel auf ihrem Leben gelastet hatte, war plötzlich in Bewegung geraten und es schien ihr, als ob Formen lang gesuchter Gegenstände sich wie in einem Schleier abdrückten und wieder verschwänden. Und nichts noch zwar hob so sein Gesicht hervor, daß die Finger es halten konnten, alles wich noch zwischen den leise tastenden Worten aus und von nichts konnte man sprechen, aber es war jedes Wort, das nun nicht mehr gesagt wurde, schon von ferne wie durch einen weiten Ausblick gesehn und von jenem merkwürdig mitschwingenden Verstehen begleitet, das alltägliche Handlungen auf einer Bühne zusammendrängt und zu Zeichen eines im flachen Kieselgeflecht des Bodens sonst nicht sichtbaren Weges auftürmt. (S. 200)
Das Sich-Heben des Windes begleitet jedesmal kräftiger die in ihr steigende Wollust, nachdem Johannes und sie “sterbensstill”, “zärtlich” zusammengesunken sind. Es ist diese Hingabe, dieses Sich-Verlieren, das als “Entgrenzung” etwas Größeres nach sich zieht:
Und nur ganz, ganz vergessen dachte sie schon an jene größere Sehnsucht, die sich noch erfüllen sollte, aber das war in diesem Augenblick bloß so leise traurig, wie wenn weit weg die Glocken läuten; und sie standen nebeneinander und hoben sich groß und ernst – wie zwei riesige Tiere mit gebogenen Rücken in den Abendhimmel. (S. 201)
Der Nebel auf ihrem Leben hat sich gelöst, die Paralyse lässt nach. Es bewegt sich etwas auf Leben zu. Die Gegenstände bekommen ein Gesicht, Konturen werden spürbar, als entstünde eine Welt für ihre Gefühle. Zwar bleiben die Formen noch vage, aber es hängt ein Versprechen des Fassbaren, Sagbaren in der Luft. Langsam wird alles deutlicher. Das Unaussprechbare harrt der Vollendung. Johannes’ Abreise und Nicht-Wiederkehr ist “wie ein Schnitt durch die Zeit”.
Wie aus einer zerbrochen am Boden liegenden Hülle war ihr aus diesem Abschied ein Gefühl von sich emporgestiegen; es war plötzlich so fest, daß sie sich wie ein Messer in dem Leben dieses andern Menschen fühlte. […] Es erschien ihr als etwas so Unwiderrufliches wie ein Schnitt durch die Zeit, vor dem alles Frühere unverrückbar erstarrt war, es sprang dieser Tag mit einem plötzlichen Blinken wie ein Schwert aus allen anderen heraus, ja ih war, als sähe sie körperlich in der Luft, wie die Beziehung ihrer Seele zu dieser andern Seele zu etwas Letztem, Unabänderlichem geworden war, das wie ein Aststumpf in die Ewigkeit ragte. (S. 201)
Wie aus einer zerbrochenen Hülle steigt ein Gefühl in ihr auf, als könne ihr Selbstbild nur aus Kaputtem hervorgehen. Ihr Mangel an Selbstbewusstsein, die Suche nach dem eignen Ich, die sie in die Monotonie des Alltäglichen hineingeführt hat, bricht hier wie eine Schale; es fällt mit der Hülle die Maske. Wichtig ist, dass Veronika nach langen Jahren und zum ersten Mal ihr “Sein” spürt. Sie wird nun Veronika und alles Gewesene erstarrt. Es trieb sie nicht anders mehr als eine “in die Einsamkeit drängende Bestimmtheit”. (S. 201):
Es war ihr fast übel vor Leichtigkeit und Glück. Diese Spannung wich erst von ihr, als sie die Hand auf das Tor ihres Hauses legte. Es war ein kleines , rundes, festgefügtes Tor; als sie es schloß, legte es sich undurchdringlich vor und sie stand im Dunkel wie in einem stillen, unterirdischen Wasser. Sie schritt langsam vorwärts und fühlte dabei, ohne sie zu berühren, die Nähe der kühlen sie umschließenden Wände; es war ein sonderbar heimliches Gefühl, sie wußte, daß sie bei sich war. (S. 202)
Sie fühlt sich gut, obwohl sie ahnt, dass Johannes sich töten wird. Im Zusammensinken mit Johannes hat sich etwas in ihr erfüllt, das ein Abschied nach sich zog. Sie hat sich ihm hingegeben. Es scheint sogar so zu sein, dass sie den Freitod des Johannes erwartet, als Beweis einer Erfüllung, als Abschluss einer Einmaligkeit, einen Schnitt in der Zeit, ein Erhobenwerden zu noch größerer Intensität, zu der Erfüllung einer Sehnsucht, die in ihr schlummert und die sie jahrelang als Gefühlsunklarheit empfunden hat. Das Aufleuchten seines Gesichts “aus dem Leinen, an dem sie stickte” (S. 202) rückt wie vorhin die Formen lang gesuchter Gegenstände, die “sich wie in einem Schleier abdrückten” (S. 200), ihre Geschichte in die Nähe der Legende der heiligen Veronika: Veronika, in deren Schweißtuch sich das leidende Gesicht Christi wie ein Versprechen abdrückt. In der stillen Heimlichkeit ihres Hauses legt sich “eine tiefe Ruhe und ein Gefühl des Geheimnisses” über Veronika. (S. 203)
Dann tat sie still, was sie zu tun hatte, und der Tag lief zu Ende wie alle andern.(S. 202)
Die Geschichte, die hier enden könnte, fängt mit dem Hereinbrechen der Nacht in neuer Glut an. Der Leser fragt sich auch: “Kann so enden, was noch kaum begann?” Nicht nur spürt man, wie der Text auf eine Lösung hinstrebt – ein unbekanntes Ziel –, sondern zugleich hängt noch eine Erwartung in der Luft.
Und es kam die Nacht, diese eine Nacht ihres Lebens, wo das, was sich unter der Dämmerdecke ihres langen kranken Daseins gebildet hatte und durch eine Hemmung von der Wirklichkeit abgehalten, wie ein fressender Fleck zu seltsamen Figuren unvorstellbarer Erlebnisse auswuchs, die Kraft hatte, sich endlich bewußt in ihr emporzuheben. (S. 203)
In ihrem “toten” Leben hat Veronikas Geist Unbewältigtes und Nicht-Verwundenes gesammelt. Die “Dämmerdecke” weist metaphorisch hin auf den geistigen Zustand, in dem Veronika sich befand. Ihr Dasein war wie krank und sie wusste nicht, was in ihrer Seele sich regte. So lebte sie hin, im Haus mit der Tante, deren Existenz sie weder als männlich noch als weiblich erfuhr. Die Tante, als ungeschlechtliches Wesen, schwebte wie ein Gespenst über dem Leben Veronikas. Die unvorstellbaren Erlebnisse sind ihre Erfahrungen mit Johannes, an die sie sich erinnert. Die Dynamik findet im Innern statt. Sie wird sich der Erlebnisse bewusst, die Teil ihres Innern, des eignen Ichs, werden. Was sie geahnt hat, verinnerlicht sich in ihr. Das “tote” Ich wird dynamisch, lebendig:
Sie zündete, von etwas Unbestimmtem getrieben, in ihrem Zimmer alle Lichter an und saß zwischen ihnen, reglos in der Mitte des Raums; sie holte Johannes’ Bild und stellte es vor sich hin. Aber es schien ihr nicht mehr, daß das, worauf sie gewartet hatte, das Geschehen mit Johannes sei, auch nichts in ihr, keine Einbildung, sondern sie empfand mit einemmal, daß ihr Gefühl von ihrer Umgebung sich verändert hatte und hinausgedehnt in ein unbekanntes Gebiet zwischen Träumen und Wachen. (S. 203)
Es ist, alsob sie sich Johannes erinnert, so als wäre er schon tot. Sie inszeniert eine Trauerzeremonie, fast kaltblütig. Es ist nicht die Feier für einen kürzlich Verstorbenen, es ist die Feier des eigenen Ichs, das sich wie ein Raum um alles legt. Das Gefühl dieses Augenblicks bildet den Schnitt in der Zeit. Sie liebt in der Vorahnung einer Erwartung:
Aber nach einer Weile hob sie sich wieder bis an die Grenze ihrer seltsam gespannten Wachheit und hatte plötzlich ganz deutlich die Empfindung: so ist jetzt Johannes, in dieser Art Wirklichkeit, in einem veränderten Raum. (S. 204)
Johannes ist in dem von ihr vorgestellten Freitod, Veronikas Suche nach dem eigenen Ich untergeordnet. Veronika gelangt in ein Dämmergebiet, wo alles ihr vertraut ist, wo sie glaubt sich selbst zu sein. Doch in Wirklichkeit ist sie weit von sich entfernt.
Kinder und Tote haben keine Seele; die Seele aber, die lebende Menschen haben, ist, was sie nicht lieben läßt, wenn sie es noch so wollen, was in aller Liebe einen Rest zurückhält, - Veronika fühlte, was durch alle Liebe sich nicht verschenken kann, ist das, was allen Gefühlen eine Richtung gibt, von dem weg, was ängstlich glaubend an ihnen hängt, was allen Gefühlen etwas dem Geliebtesten Unerreichbares gibt, etwas Umkehrbereites; selbst wenn sie auf ihn zukommen, etwas wie auf geheime Verabredung lächelnd Zurückblickendes. Aber Kinder und Tote, sie sind noch nichts oder sie sind nichts mehr, sie lassen denken, daß sie noch alles werden können oder alles gewesen sein; sie sind wie die gehöhlte Wirklichkeit leerer Gefäße, die Träumen ihre Form leiht. Kinder und Tote haben keine Seele, keine solche Seele. Und Tiere. Tiere waren schrecklich für Veronika in ihrer drohenden Häßlichkeit, aber sie hatten das punktförmig-augenblicks hinabtropfende Vergessen in den Augen. (S. 204)
Kinder haben keine Seele, da sie noch nicht gelebt haben, sie sind erfahrungslos. Tote haben keine Seele, da sie nichts mehr spüren können. Tiere haben das Vergessen in den Augen. Die Liebe der ‘beseelten’ Menschen zielt auf Erreichbares. Ihre Seele will die körperliche Bestätigung. Veronika hat sich ihr Leben lang vor einer Liebe gefürchtet und nach einer anderen sich gesehnt: “in Träumen ist es manchmal so, wie sie es ersehnte”. (S. 204) Es ist Etwas, das schwer ausgesprochen werden kann, eine Wonne, aus dem Stoff von Träumen: “So schwankte sie zwischen Johannes und Demeter…” (S. 204) Sie schwankte zwischen Trieb, der Vergessen macht, und Wonne, die Ewiges verspricht. Es ist sie selbst, die den Geliebten unerreichbar macht. Die Seelen von Kindern und Toten sind leer und doch können sie Träumen Form geben. Das Vergessen des Tieres macht ihr Angst, weil in ihm die Brutalität der Tat, das Dunkle eines Augenblicklichen steckt. Aber in Träumen gibt man sich “so einem Geliebten hin, wie eine Flüssigkeit in den andern; mit einem veränderten Gefühl vom Raum; denn die wache Seele ist ein unausfüllbarer Hohlraum im Raum, hüglich wie blasiges Eis wird der Raum durch die Seele”. (S. 204) Immer klarer steht es ihr vor Augen, ein “Gefüge von Gefühlen und Gedanken”: “Solche Gespräche mit Johannes, solche Gespräche mit Demeter. Und darunter begann sie den Hund, den Hahn, einen Schlag mit der Faust zu erkennen und dann sprach Johannes von Gott”. (S. 205) Wie der Vogelruf ist das Glockenläuten: Signal einer Bewusstwerdung, in der Johannes, Demeter, Hund und Hahn, Gott… in ihr einen Rahmen finden, wie ein Gewebe, unsichtbar aus der Erinnerung hervorgehend.
Auch Veronika hatte stets gewußt, irgendwo im Gleichgültigen, ein Tier, jeder kennt es, mit seinen übel dunstenden und widerwärtig schleimigen Häuten; aber in ihr war es nur eine unruhige, ungenau gestaltete Dunkelheit, die manchmal unter ihrem wachen Bewußtsein hinglitt, oder ein Wald endlos und zärtlich wie ein Mann im Schlaf, es hatte nichts in ihr von einem Tier, nur gewisse Linien seiner Wirkung auf ihre Seele, über sich hinaus verlängert… Und Demeter sagte dann: ich brauche mich bloß zu beugen.., und Johannes sagte mitten am Tag: es hat sich etwas in mir gesenkt, verlängert… Und es gab einen ganz weichen, blassen Wunsch in ihr, daß Johannes tot sein möge. (S. 205)
Veronika erkennt, dass das Tier in ihrem Unterbewusstsein eine entscheidende Rolle spielt. Sie ekelt sich vor dem Tier, insbesondere vor seiner Sexualität, die durch das Bild der schleimigen Häute veranschaulicht wird. Hat sie Johannes bewusst mit einem Tier verglichen? Und zugleich von jeder Sexualität abstrahiert? Veronikas Gefühl, Tieren gegenüber, ist doppeldeutig; einerseits Faszination und andererseits Ekel. Unergründlich ist, dass die Geschichte mit der Bäurin sie nicht anekelt, vielleicht durch die Distanz in der Vorstellung. Die “Tiergedanken” sind für sie ein dunkles, unbekanntes Gebiet. Es ist der Teil ihres Wesens, den sie noch nicht akzeptiert hat, weil sie ihn mit Liebe nicht vereinigen kann. Nicht das Tier, sondern etwas anderes scheint sie zu beschäftigen. Die beiden Männer wollen sich für sie bis zum Tiersein erniedrigen oder erhöhen. Es handelt sich um Ekel und Faszination. Wenn Johannes tot sein würde, könnte das Tier sie bleibend faszinieren, statt sie anzuekeln. Durch die Vorstellung von Johannes’ Tod – durch die Vorstellung seines Gesichts, im stillen ihn Ansehen, scheint ihr eine Todesgabe, eine “unberechenbare Fülle des Lebendigen” verschenkt zu werden. Zum ersten Mal gelingt es ihr, hier in einer Bildersprache, Gott und Tier zusammenzubringen:
mit Gott meint er jenes andere Gefühl, vielleicht von einem Raum, in dem er leben möchte […] sie dachte ja auch: ein Tier müßte wie dieser Raum sein, so nah vorübergleitend, wie Wasser in den Augen zu großen Figuren zerrinnt, und doch klein und fern, wenn man es als draußen vor sich sieht; warum darf man im Märchen so an Tiere denken, die Prinzesinnen bewachen? War es krank? Sie fühlte in dieser einen Nacht sich und diese Gebilde licht auf einer ahnungsvollen Angst des Wiederversinkens. (S. 205)
Erst hier erscheint in voller Vehemenz das Bedürfnis, Extreme zueinander zu bringen – als Zeichen einer Erhöhung menschlicher Gefühle, – zeitlich, aber von räumlicher Prägung: einen Seelenraum zu schaffen, in dem Dunkel und Helles sich vereinigen. War es das, was Johannes gemeint hat, als er sich “über sich hinausverlängert” hatte – war es das, wovon Johannes sprach, als er sagte: “es hat sich etwas in mir gesenkt, verlängert… “ (S. 205) In diesem neuen Bewusstsein stößt Veronika letztendlich an neue Grenzen:
Ihr kriechendes waches Leben würde wieder darüber zusammenbrechen, sie wußte es und sie sah, daß alles dann krank und voll Unmöglichkeiten war, aber wenn man seine verlängerten Einzelheiten halten könnte, wie Stäbe in einer Hand, ohne das Widrige, das hinzukommt, wenn sie sich zu einem wirklichen Ganzen verkleben…: ihr Denken konnte in dieser Nacht die Vorstellung einer gebirgsluftungeheuren Gesundheit erreichen, voll einer Leichtigkeit des Verfügens über ihre Gefühle. (S. 205)
Die Angst, das Ich wieder zu verlieren, wird auch in Zukunft ihr routinemäßiges Leben überschatten. So meint Veronika allerdings. Ihr neues Bewusstwerden wird dem alltäglichen Trott nicht standhalten. Sie sieht ein, wie ihr Leben dann aussehen wird: wie früher. Veronika ist sich jenes anderen Gefühls bewusst geworden und möchte es nicht verlieren. Die neue Erkenntnis, in der Tier und Gott, die Extreme der menschlichen Kondition sich vereinen lassen, können ihr Halt im lebendigen Leben werden, ohne dass von Perversionen die Rede sein kann. Paradoxalerweise führt das Durchbrechen des Tabus zum Göttlichen hin. Durch den Rollenwechsel von Johannes und Demeter ist Veronika zur Klarheit geraten. Ein Glück wirbelt durch ihre Gedanken; so nahe war sie Johannes noch nie. Im zärtlichen Traum eines gewonnen Glücks des Erkennens erlischt das letzte Licht – endet die Trauerfeier: “Veronika blieb im Dunkeln.” (S. 206) Die Zeit weckt sie aus ihrem Traum:
Und mit einemmal fühlte sie ihre Tante schlafen, ganz rückwärts im hintersten Zimmer, mit vielen Runzeln in ihrem strengen Lederantlitz; und die Dinge standen dunkel und schwer und ohne Spannung; und sie ängstigte sich bereits wieder in diesem fremden, sie umschließenden Dasein. (S. 206)
Veronika wird mit einem Schock zurückversetzt in die Zeit. Die schlafende Tante, die ihr Leben beherrscht, treibt sie aus dem Traum des Erkennens, aus dem das Leben umspannenden Raum, der mit der Enge des “hintersten Zimmers” nichts gemein hat. Aber die Ahnung in ihr bleibt wie eine dahinfließende Melodie, die wegführt aus der Enge, weg von Demeter, weg von Johannes, weg von der Tante, weg von allem, wie eine feine, nagende Seligkeit, die “ihren Körper höhlte, bis er sich weich und zärtlich wie eine dünne Kapsel trug.” (S. 207)
Es lockte sie plötzlich, sich zu entkleiden. Bloß für sich selbst, bloß für das Gefühl, sich nahe zu sein, mit sich selbst in einem dunklen Raum allein zu sein. Es erregte sie, wie die Kleider leise knisternd zu Boden sanken; es war eine Zärtlichkeit, die ein paar Schritte in die Dunkelheit hinaustat, als ob sie jemand suchte, sich besann und zurückeilte, um sich an den eigenen Körper zu schmiegen. Und als Veronika langsam, mit zögerndem Genießen ihre Kleider wieder aufnahm, waren diese Röcke, die in der Finsternis mit Falten, in denen wie Teiche in dunklen Höhlen träg noch ihre eigene Wärme säumte, und bauschigen Räumen um sie stiegen, etwas wie Verstecke, in denen sie kauerte, und wenn ihr Körper hie und da heimlich an seine Hüllen stieß, zitterte eine Sinnlichkeit durch ihn, wie ein verborgenes Licht hinter geschlossenen Läden unruhig durch ein Haus geht. (S. 207)
Die Grenzzone Mann-Frau ist überschritten – die Kleider als “Verstecke” fallen wie Masken.
Diese Entkleidung ist symbolisch für das endgültige Sich Wiederfinden der Veronika. Nackt legt sie die Belastung des Tages ab. Die Tarnung, die sie daran gehindert hat, sich richtig zu äußern, hat der Vereinigung der Liebenden im Wege gestanden. Diese Sinnlichkeit betrifft nur sie, führt weg von der Enge des Hauses, vom Schemen der Tante. Veronika entdeckt sich neu. Die Nähe zum eignen Körper, die eigne Wärme bedeutet Befreiung. Die Nacktheit des weiblichen Körpers, die mit Narzissmus nichts zu tun hat ( “und fand ihr Bild nicht”) und die sie im grenzenlosen Raum des Dunkels erfährt, ist eine Sinnlichkeit:
so ziel- und wunschlos in ihr wie das wehe unbestimmte Ziehen im Schoß vor den wiederkehrenden Tagen. Sonderbare Gedanken strichen durch sie: nur sich so zu lieben, das ist wie wenn man vor einem alles tun könnte; und als sich dazwischen, jetzt wie ein hartes, häßliches Gesicht, noch einmal die Erinnerung herausschob, daß sie Johannes getötet habe, erschrak sie nicht […] (S. 208)
Diese Sinnlichkeit ist wie ein Kranksein, von Engeln umringt, wie im Fieber: “Engel standen um sie, Männer mit wunderbar gefiederten Händen”. (S. 208) Diese Erinnerung führte von Männern wie Demeter, Johannes weg – in den Traum, wo die Engel stehen “in einem unsichtbar hindurchgespannten Kreis”. (S. 208) Liegt hier der Punkt, von dem es im Prolog hieß: “vielleicht daß diese Stücke hier dann aneinander sprengen, aus ihrer Krankheit und Schwäche hinweg ins Klare, Tagfeste, Aufgerichtete”. (S. 183) Die Trennung der Geschlechter wird hier im Rein-Körperlich-Erotischen überwunden, verborgen hinweisend auf größere Liebe, in gesteigerter geistiger Form.
Sonderbare Gedanken strichen durch sie: nur sich so zu lieben, das ist, wie wenn man vor einem alles tun könnte; und als sich dazwischen, jetzt wie ein hartes, häßliches Gesicht, noch einmal die Erinnerung heraufschob, daß sie Johannes getötet habe, erschrak sie nicht, - sie tat sich nur selbst weh, als sie ihn sah, das war, wie wenn sie sich von innen gesehen hätte, voll Abscheulichem und Gedärmen, die wie große Würmer verschlungen waren, aber zugleich sah sie ihr Sichansehen mit und empfand Grauen, doch es war noch in diesem Grauen vor sich etwas Unentreißbares von Liebe. (S. 208)
Veronika ist sich dessen bewusst, der Anlass für Johannes’ Freitod zu sein, doch fühlt sie sich nicht schuldig. Wie der Titel schon besagt, geht es in erster Linie um “die Versuchung der Veronika”. Sie stellt sich Johannes als etwas Widerliches in der Verwesung vor, so dass sie Abstand von ihm nehmen kann. Ein Tod, der sie freisetzt. Auch als “Täter” liebt sie sich noch. Das Bild des toten Johannes hilft ihr, ihr Wesen einem Größeren unterzuordnen. Das Nahesein eines von Anfang Unbestimmbaren wird immer deutlicher in Worte gefasst:
Mehr noch als eines des Körpers eines der Seele; es war wie wenn sie aus seinen Augen heraus auf sich selbst schaute und bei jeder Berührung nicht nur ihn empfände, sondern auf eine unbeschreibliche Weise auch sein Gefühl von ihr, es erschien ihr wie eine geheimnisvolle geistige Vereinigung. (S. 209)
Die Wollust macht jetzt einen Umweg über die Vorstellung. Es gibt jetzt Johannes als Intermediär und die Unmittelbarkeit ist weg. Sie stellt sich vor, wie er sie sieht. Dabei geht es ihr nicht um die Person des Johannes, sondern nur um seine Rolle aus einer besonderen Perspektive. Sie will sich von außen her sehen, um so das Bild von sich und ihrer Liebe vollständig zu machen. Ihre Sinnlichkeit hat nur damit zu tun, dass sie durch Johannes sich kompletter empfinden kann. Veronika zielt nicht auf eine Vereinigung mit Johannes, doch auf eine Vereinigung mit sich selbst. Mittels der etwas makabren Vorstellung findet sie sichselbst. Doch vielleicht vereinigt sie sich letztendlich auch mit Johannes. Nur in der Innenwelt ihrer Vorstellungswelt ist dies möglich.
Es gibt eine Welt, etwas Abseitiges, eine andere Welt oder nur eine Traurigkeit… wie von Fieber und Einbildungen bemalte Wände, zwischen denen die Worte der Gesunden nicht tönen und sinnlos zu Boden fallen, wie Teppiche, auf denen zu schreiten, ihre Gebärden zu schwer sind; eine ganz dünne, hallende Welt, durch die sie mit ihm schritt, und allem, was sie tat, folgte darin eine Stille und alles, was sie dachte, glitt ohne Ende, wie Flüstern in verschlungenen Gängen. (S. 209)
Der Leser hat den Eindruck, dass für Veronika der angedeutete Koitus (S. 201), der in gewissem Sinne eine Einweihung in das Reich der Sinnlichkeit bedeutete, eine Einmaligkeit sein sollte. Dies würde auch den Abschied und Veronikas Vorstellung, dass Johannes in den Freitod ging, erklären. Ambivalent scheint sie aber dem Geschlechtlichen gegenüber zu bleiben. Zugleich scheint Veronikas Geschichte jedoch jenseits von krankhaften Ängsten in einer Art “Selbstheilung” zu enden. Sie liegt in der Sehnsucht “so ziel- und wunschlos” (S. 208), die wie eine letzte Grenze Gefühl, Instinkt und Erlebnis “zu einer ahnungsweise zu empfindenden Ureinheit”11 vereint. Dies ist es auch, das von Veronika als das “Abseitige” – eine “andere Welt”, eine “ganz dünne, hallende Welt” (S. 209) bezeichnet wird. Es ist auch die Welt, die direkt zum Anfang, zum Prolog zurückführt.
Als “Epilog” folgt dann der allerletzte Teil dieser Geschichte. Das Eintreffen des Briefes von Johannes ist der Auftakt. Daraus wird klar, dass Johannes nicht tot ist, aber auch nicht
zurückfinden kann. Nach wie vor bezeichnet er alles als “ohne Zusammenhang” (S. 210): er “fand auf die Straße”.
Dagegen spürt Veronika, wie sie “wie unter einem schweren Mantel” nicht fand “in die einfache Wirklichkeit” (S. 210) – und es verstummte etwas in ihr. Es versetzt sie zurück, als ob nichts gewesen wäre. Die Gesichter von Demeter, Johannes, der Tante: es bleiben fremde Gesichter, “kaum von einander zu unterscheiden” (S. 211). Alles, das ganze Haus, ist voller Unruhe:
Sie sprang auf und tat ein Paar Schritte. Und plötzlich schwieg alles. Sie rief und nichts antwortete; sie rief noch einmal und hörte sich kaum. Sie sah suchend umher, reglos stand alles auf seinem Platz. Und doch fühlte sie sich. (S. 211)
So endet eine Geschichte, noch bevor sie begonnen hatte. Einmal, so meint Veronika, “jenes eine Mal” habe sie wirklich gefühlt. So wird “jene Nacht” in die Erinnerung eingehen, wie “der Schatten einer verborgenen Freude”. (S. 211) Die Wirklichkeit des Alltags und die Erinnerung klaffen aus einander. Alles scheint wie vorhin: Was ist denn passiert? War dies alles Einbildung? Ist es eine Krankheitsgeschichte? Oder ist es Musils Versuch, die Utopie eines
anderen Lebens in der Symbolik einer Nacht darzustellen? Die Sehnsucht nach Ganzheit, die Vereinigung des Männlichen und Weiblichen, d.h. ein Entzweites, zueinander zu führen, wäre es auch nur im Märchen einer Nacht? Es sind Fragen, die unbeantwortet bleiben. Veronika fällt in alte Schablonen zurück – wenn auch immer in der Erwartung, durch eine neue Begegnung die Erinnerung als “Wahres” zu erleben und zurückzufinden.
III Die Textanalyse im Lichte der Sekundärliteratur
Entstehungsgeschichte 1
(Karl Corino 2003, S. 365-399)
“Die stille Veronika” hieß zuerst “die stille Cäcilie”. Ihren Ursprung findet dieser Name bei Freud, der eine Patientin hatte namens Cäcilie. Er nannte sie seinen “schwersten und lehrreichsten Fall von Hysterie”. Das er diesen Fall schwierig wiedergeben konnte, kann Musil veranlasst haben diese Lücke auszufüllen. Weiterhin bleibt es unklar, ob Musil dieser Spur folgt, da die Handlung in einer österreichischen Provinzstadt angesiedelt war. In der ersten Fassung wird die Geschichte eingeleitet vom Anprobieren eines Hochzeitskleides, was der Rahmen bildet für Veronikas Rückzug vom Leben, die Psychastenie. Das Ausbleiben von Evidenzgefühl bei Selbstverständlichkeiten und die Entfremdung der Außenwelt gegenüber treffen Veronika. Weiterhin gleichen alle Tage und Jahre einander, so dass Veronika im Unbestimmten schwebt. Veronika ist gewissermaßen narzistisch in ihrer Isolation sich selbst genießt. Cäciliens Bruder, ein Priester, tadelt Veronika für ihren Rückzug von den “Freuden der Geselligkeit”. Musil lässt ihn kryptische Anspielungen auf die Hysterie-Studien der frühen Psychoanalyse machen. Auch Nietzsche-Zitate und sexuelle Konnotationen lassen sich finden und führen zum Problem des Widerstands und eines verdrängten Traumas. Da begegnet man Breuer und Freud. Theorien verbindend ist es Musils Absicht, sie in das Metaphysische auszudehnen. Da wo Theorien miteinander verknüpft werden, bricht der Text ab. Erst nachdem der Priester die Bühne verlassen hat, taucht der Jurist oder Oberleutnant auf. Veronikas Widerstand gegen das Gattungsmäßige und die Begattung sollte aufgelockert werden. Die mystische Vereinigung mit dem abgereisten Priester und schließlich das “Durchbrechen […] des Gattungsmäßigen”, sprich: der Coitus mit dem im Hintergrund lauernden männlichen Mann, deutete Musil nur noch in Notizen an.
Die dritte erhaltene Fassung ist der Druck, der in Heft Nr. 6 der Zweimonatsschrift Hyperion, wohl November 1908, erschien und Das verzauberte Haus hieß. Die Gestalt der Martha, die mit ihren zwei Vettern aufwuchs, liegt der Geschichte zugrunde. Die Beiden vertreten verschiedene Männertypen. Demeter (eine Variante von Demetrius) ist ein der Erdgöttin Demeter geweihter, chtonisch-instinktgebundener Mann, Nagy ist im Ungarischen der Große, Starke, Erwachsene. Die Heldin, die nicht wirklich eine Siegerin ist, heißt paradoxalerweise Viktoria. Der Dritte im Bunde bleibt (wie in den beiden fragmentarischen Fassungen) namenlos.
Die Betulichkeit der vorausgehenden Version lässt Musil hinter sich mit einem Mordversuch seitens Veronika und Demeter als intendiertes Opfer. Demeter wird Zeuge einer Werbung im Nebenzimmer, die mit der schrillen Abweisung des Freiers und mit der Androhung seines Selbstmordes endet. Dann löst die Abreise des Verschmähten bei Viktoria eine ekstatische Fernliebe aus, die metaphorisch veranschaulicht wird. Einerseits lässt Viktoria sich nicht erpressen und andererseits nützt sie den vermeintlichen Tod aus. Da er jetzt “tot” ist, geht ihre Zärtlichkeit jetzt ungehindert durch ihn, wie die Wellen durch jene im Meere schwebenden purpurnen Glockentiere. Mit dem abgewiesenen Freier feiert Viktoria eine heimlich-tödliche Hochzeit. Es ist eine ‘unio mystica’ wie mit der Natur selbst. Der “entseelte” Mann wird nämlich mit Natur-Metaphern umschrieben. Als das Lebenszeichen eintrefft, ist Viktoria zurück in der Wirklichkeit. Nachdem Intellekt und Gefühl kurz paralysiert waren, findet Viktoria sich in ihrer alten Lage zurück. Von dieser quasi-tierischen Existenz wird Demeter Nagy profitieren können. In dem Versuch, alles Fremde von sich zu halten, verschwinden die letzten Hemmnisse, als Viktoria sich zwingt in der Abwehr der Mikroorganismen den Atem zu halten. Es überfällt sie eine Raserei ohne jeden personalen Bezug. Sie möchte über das Leben herfallen, wie ein Raubtier an sein Opfer herangeht. Auch Schmutzigem möchte sie nicht aus dem Wege gehen, wo sie normalerweise sehr sauber ist. Viktoria gibt sich letztendlich Demeter sogar hin. Die von Viktoria abgelehnten primitiven Triebkräfte siegen. Die “Coda” des Textes ist von einem brillanten Zynismus im Operettenton, deren ungarischen Akzent man lange im Ohr behält. Mit dem Verzauberten Haus hat Musil bewiesen, dass er keine Eintagsfliege war. Bei Törless endete es also nicht. So porträttierte er die passiv-sinnliche Frau, deren passive Sinnlichkeit er im Prinzip hasste. Im Jahre 1909 schlug er ein Angebot, an der Universität Graz tätig zu werden, wegen seiner schriftstellerischen Ambitionen aus. Was folgte war die Publikation in Franz Bleis Zeitschrift Hyperion. In Martha hatte Musil, der Eremit von der Regensburgerstraße, seine Diotima gefunden. Wichtiger als die Psychologie fand er die Ästhetik und die Moral von Marthas Leben. Musil hatte angefangen die Novelle Die Vollendung der Liebe zu entwerfen, als ihn der Vorschlag aus Graz erreichte. Die Zeitschriften-Fassung für den Hyperion wurde umgearbeitet, da sie dreimal so lang war als Das verzauberte Haus. Im Jahre 1910 begann er mit dem Umbau zur Versuchung der stillen Veronika. Musil hatte Angst, dass der Text von geringer Qualität sein würde, weil die Arbeit zu leicht ging.
Der anfangs auktorial verfasste Text wurde perspektivisch facettiert. Aus der Einstimmigkeit wurde eine Art von imaginärem Zwiegesang. Das von Demeter im Verzauberten Haus belauschte Gespräch zwischen der Heldin und dem abgewiesenen Freier (jetzt Johannes) ist nicht mehr nur Anlass zu Weiterem, sondern bestimmt den Bau der Novelle in einem ganz anderen Sinne. Es wird ein monologisches Duett. Der höchst zweideutige Vorspann macht den Unterschied deutlich zwischen der vierten und vorletzten erhaltenen Fassung und der zweiten “brautidyllischen” Fassung, die ebenfalls die Versuchung der stillen Veronika getauft wurde. Äußerlich liegen nur zwei Jahre zwischen diesen Entwürfen, stilistisch sind es mindestens zwanzig. In der vierten Fassung unterdrückt Musil, im Unterschied zum Verzauberten Haus, nicht länger das Pathogenetische im Verhalten der Figuren, vor allem Veronikas. Wie die anderen problemgeladenen Erlebnisse wird auch das Jugendtrauma Veronikas, nämlich die sexuelle Annäherung eines großen Bernhardiners bildlich dargestellt. Dieser Hund war der Doppelgänger Marthas Neufundländers. Der Hund leckt Veronika und sie spürt Geahntes und Vergangenes. Die Anamnese Veronikas ist voller Ambivalenzen gegenüber dem Geschlechtlichen, und sie zeigt das Warum ihres Verhaltens Johannes gegenüber. Es ist letztlich der obsiegende Widerwille gegen das Tier, von dem er in anderer Weise als der tierisch-brutale Demeter betroffen ist. Johannes Selbstgefühl ändert sich gleichsam unter den Augen Veronikas. Er hat Angst “Tier zu werden”. Schamvoll versucht er sich damit zu entschuldigen, dass Veronika einfach, wenn sie “Tier” sagt, einen schwer zu erreichenden Menschen meint. Nichts hindert sie aber zur Heilung ihrer Phobie daran, seinen Tod zu wünschen. In diesem Sinne unterscheidet sie sich von den Hysterikerinnen Breuers und Freuds. Musils Parallelaktion zur frühen Psychoanalyse ist dennoch unübersehbar. Johannes betätigt sich seinerseits, die Zwangsvorstellungen Veronikas zu verstehen. Im Geiste Breuers und Freuds versucht er, die Koexistenz von Wirklichkeit und Vorstellung im Geiste Veronikas nachzuweisen. Demeters Brutalität und die schreckliche Leere verfließen und bleiben aber in Veronika vorhanden. Wie etwas Fremdes wirkt die Demütigung in ihr. So steigt ihre Sinnlichkeit ins Gehirn. Sowohl in der Novelle wie in der Realität des von Musil Erlebten legen traumatische Erlebnisse und Ekel die Handlungen lahm. Die Wiener Seelenärzte verwenden eine Fachsprache, wo Musil ins Metaphorische ausweicht. In seinen die Novellen begleitenden Analysen hat Musil die verschiedenen Verfahrensweisen zu beschreiben versucht. Im exakten Denken gibt es, im Gegensatz zu der schönen Literatur, weniger sprachliche Mittel. Musil war ärgerlich, weil bei ihm oft “das Rhetorische das prius des Gedanklichen” sei. Er sei gezwungen, Altes zu benutzen, was die Sagkraft verringern konnte. Das Gedankenmaterial für eine Arbeit habe Musil am Ende oft nicht mehr im Griff. Erst durch das Vollendete konnte er weiter denken: “differentia specifica” zwischen dem rein Rationalen und dem “gestaltenden” Denken, wobei es Musil darum geht, alles “fühlbar zu machen”. Letzteres ist an Metaphern und Vergleiche gebunden, die besonders in den Vereinigungen in Hülle und Fülle vorhanden sind. Sie “infizieren” den Leser. Sie sind Teil einer “Gemütserregungskunst”, deren Kehrseite eine Art von Seelenlähmungskunst ist – ganz analog zu den Befindlichkeiten der Protagonistin Musils.
Die Arbeit kam ins Stocken. Musil zweifelte an der Möglichkeit, das Verzauberte Haus in die Ich-Form oder in zwei Ich-Formen zu überführen. Veronika spreche oder schreibe dabei “wie ein Buch”. Wie komme sie zu diesem Talent? Ohne befriedigendes Ergebnis beschloss er wieder eine andere Erzählform zu wählen und die Ich-Form aufzugeben. Die Tagebuch-Fassung brach er unvollendet ab. Der erste Teil der Novelle wurde verändert. Zweifel und Depression bei Musil waren die Folgen.
Negative Sentiments begleiteten die Arbeit. Die Beschäftigung mit Tierphobien ließ sich auch im Alltag spüren. In dieser Zeit war Martha seine Stütze als Kritikerin.
Es dauerte bis zum 11. Januar 1911 bis Musil die Stille Veronika beendet hatte. Eine anonyme von Musil selbst verfasste Annonce zeigte Musils Absichten: in der Versuchung der stillen Veronika sei versucht, den Zusammenhang zwischen der Liebe zu einem “entselbsteten” Menschen und der ängstlichen Neigung zu einem Tier zu gestalten. Drei Menschen leben nebeneinander. Es handle sich um ein Sichnähern und Loslassen. Dahinter stecke das eigentliche Schicksal, die Angst vor einem Tier und der Wunsch, abstrakte Vorstellungen vergeblich zu verwirklichen. Das Ganze sei darauf gerichtet, jenseits alles Krankhaften und fast bis an jener Grenze, wo Gefühl, Instinkt und Erlebnis zu einer nur ahnungsweise zu empfindenden Ureinheit sich wiederfinden, den “Fall” darstellbar zu machen.
Höchst Plausibles und schwer Nachvollziehbares stehen hier dicht nebeneinander. Im Gegensatz zu Viktoria im Verzauberten Haus wird Veronika nicht mehr zur Beute Demeters: sie sucht die Selbstheilung. Die symbolisch-phallischen Drohapparate sind noch reichlich vorhanden, wie zum Beispiel “die Spitze von Demeters Bart”. War sexuelle Eifersucht der Ansatz, so interessierte sich Musil letztendlich vor allem für die menschliche Natur und die Interaktion – in dieser Hinsicht gibt es auch Verknüpfungen zu Tonka.
Eine Diskrepanz ist festzustellen zwischen dem Vorsatz, schnell eine kleine Geschichte zu schreiben und dann zweieinhalb Jahre beinahe Tag und Nacht an den zwei Novellen zu arbeiten. Musil behauptete, er habe sich seelisch nahezu in Monomanie zu grunde gerichtet. Er wusste, dass eine Novelle zu schreiben, im Hinblick auf den Umfang des Problems, wenig fruchtbar sein würde, doch er konnte nicht davon ablassen. Die Energie, mit der Musil an den Vereinigungen arbeitete, zeigt, wie nah ihm das Schicksal der Heldinnen ging und wie schwer ihn derTreuebruch Marthas mit Martin Cohn zu schaffen machte. Nicht umsonst sprach er in diesem Zusammenhang von “Katastrophe”.
Entstehungsgeschichte 2
(Herbert Kraft 2003, S. 92-101)
Die Versuchung der stillen Veronika, eine umgearbeitete Fassung der Erzählung Das verzauberte Haus, beginnt mit der Furcht, der “misslungene” Schluss der ersten Geschichte bedeute womöglich, das Glück gar nicht denken zu können. Nach dem Anfangssatz erscheinen die Dimensionen der Liebe, entsteht sogleich die Vorstellung von der Vollendung der Liebe als Identität der Menschen. Die Erzählperspektive ist nicht an eine Person gebunden, es kommt nicht zu einem klaren Bewusstseinszustand. Moralische Schranken gibt es in der Novelle nicht, auch nicht in Bezug auf die Sexualität. Johannes’ “Hilfeschrei” bleibt im Abstrakten. Auch Veronika fühlt sich machtlos. In allem zeigt sich die Signatur der Zeit. Menschen suchen etwas Verlässliches, aber sogar “um den eigenen Kopf muss man sich bewerben.” Veronika und Johannes sind paradoxalerweise ahnungslos und voller Ahnung, und schreiten “im dunklen Haus aneinder vorbei”. Oder sie stehen nebeneinander “an einem Fenster über einem Hühnerhof” zu einander angezogen, doch unfähig der Vereinigung. In jedem Aspekt der Sexualität lassen sich intern und extern Mängel vermuten. Darum gibt es außer der Sehnsucht nach Erfüllung die nach Leere, nach Bewußtlosem. Es müsse ein “Irgendwo” geben, das nichts mit dem Haus zu tun hat und so möchten sie fliehen: ein Fluchttopos. Im unbestimmten Selbstgefühl und in der zeitlichen Orientierungslosigkeit entsteht mit der Zeit die Idee, wenn nicht aus eigener Kraft, dann mittels einer anderen Person glücklich werden zu können: “Es war ihr […], als sei einer gekommen, der das besaß, was ihr fehlte.” Es bleibt die Erwartung, “denjenigen” zu finden. Dann würde das Leben in sexueller Vereinigung eine “Wirklichkeit” erlebt werden, die als “Vereinigung” vom Anfang an erhofft wird.
Es ist die Spiegelung des Augenblicks, die den Protagonisten schmerzlich in Erinnerung bleibt, weil Wiederholung keine Identität schafft, die über das Augenblickliche hinaus bestünde. Ohne Wiederholung hofft Veronika den Augenblick “verewigen” zu können. Als sich aber herausstellt, dass Johannes sich nicht tötete, wird es ihr klar, dass ihm die “Stirb und Werde”-Ideologie nicht beizubringen ist. Schwankend zwischen Demeter und Johannes gibt es auch am Ende keine Verlässlichkeit. Die “stille” Veronika repräsentiert das Bild des Menschen, der sich im Rückzug auf sich selbst zu bewahren versucht; zwischen Selbstwerdung und Unterwerfung bewegt sich das Leben. Der Schweiß haftet an Veronikas Name. Ihre Existenz ist ein “demütiges, rettungsloses Hinterhergehen”, “das Feuchtkalte” des sich mit Isolierung und Abgesondertsein Begnügenden. Wie bei Veronika von Jerusalem nach der sechsten Kreuzwegstation.
Intersubjektivität
(Martin Siegel 1997, S. 58-65)
Die interpersonelle Auseinandersetzung entfaltet sich in der Versuchung der stillen Veronika kommunikativ, obwohl nur zwei Gespräche direkt vorhanden sind. Diese Gespräche finden im ersten Drittel der Erzählung statt. Dann äußert Johannes sich nicht mehr, sei es im Brief. In Veronikas Gedanken ist er noch vorhanden und zwar im zweiten Drittel der Erzählung. Es gibt drei Orte der interpersonellen Auseinandersetzung: 1 ein halbdunkler Saal im Haus der Tante; 2 vor dem Haus; 3 ein freies Feld. Komplikationen treten auf, da alles in den Erinnerungs-Modus versetzt wird. Vergangenheits- und Wiederholungsmerkmale verweisen weiterhin auf eine Instanz, die das Geäußerte scheinbar vergegenwärtigt. Diese Merkmale sind im ersten Gespräch vorhanden, nicht in Veronikas Bericht über Demeter. Nur was Veronika und Johannes gemeinsam erlebt haben, wird als “erinnert” markiert. Am Ende des ersten Drittels gibt es die Sicht des Johannes, im zweiten Drittel die Sicht Veronikas. Retrospekt ist die Chronologie der Innenwelt der Protagonisten untergeordnet. Am Anfang versteht Veronika Johannes, nachdem sie Demeter erwähnt hat, entsteht die Entzweiung. Johannes versteht sie nicht mehr, da sie ihn mit Demeter und später mit einem Tier in Verbindung bringt, ihre Position zwischen den beiden Männern thematisiert und letztendlich Unflat spricht. Veronika schlägt den Selbstmord quasi vor und Johannes greift den Vorschlag später auf, nachdem er anfangs schon so etwas geahnt hatte. Eine ähnlich große Spannweite wie bei Claudine in Die Vollendung der Liebe zeigt sich im Inneren Veronikas: das Erlebnis mit dem Hahn und die Idee der Sublimation ihrer Liebe durch den Tod des Johannes gehören wesentlich zusammen. Kennzeichnend für die Vereinigungen ist, dass die Interaktion im Inneren der Heldinnen zum Ausdruck kommt. Wegen der geringen “Handlung” bleibt dies aber unnuanziert. Die Erzählgegenwart in Die Versuchung der stillen Veronika basiert sich praktisch auf die Kommunikationslosigkeit zwischen Johannes und Veronika, und gestaltet sich an Erinnerungsvorgängen. Der “praktische” Vorschlag von Johannes, einfach abzuhauen, folgt dem Wunschbild Veronikas, sich mit Erinnerungen abzufinden. Geulen setzt die Behandlung der Zeitperspektive und die Hervorhebung des inneren Lebens der Protagonisten in direkte Verbindung zu der Entstehungszeit des Textes.
Vereinigung
(Hans Geulen 1965, S. 173-187)
Die gängige literaturwissenschaftliche Methodik scheitert an der Unkonventionalität von Musils Text. So ist Hans Geulen gezwungen sich nur auf die gewissen Relikte der üblichen Bauformen zu konzentrieren, die er in der endgültigen Fassung des Textes ausfindig macht. Den Unbestimmtheiten gegenüber stellt er eine ausführliche Darstellung in Bildern fest. Die Verschleierung der Bedeutung des Textes durch die Bildhaftigkeit und die Komplexität des Veronika-Problems komplizieren die Untersuchung. Veronika sehnt sich nach einer geistigen Vereinigung mit Johannes, der dazu so unpersönlich wie ein Tier sein soll. Johannes muss sterben, damit der Zustand der Vergeistigung nicht gefährdet wird. Als Johannes jedoch fürs Leben wählt, endet Veronikas Ich-bezogene Liebe, in der Johannes nur ein Werkzeug ist. Wo Veronika und Johannes versuchen ihre Gefühle zu benennen, misslingt dieses Bestreben und alles bleibt in der Schwebe. Dass Johannes so unpersönlich wie ein Tier ist, lässt ihn in Veronikas Augen für eine Vereinigung in Frage kommen. Schon die Vorstellung des toten Johannes scheint für Veronika Wirklichkeit zu sein. Die Zwangsvorstellungen Veronikas hängen mit Wesentlichem in ihrem Leben zusammen. Die zwei Vögel erinnern sie an das Verdrängte. Selbstvergessen, Erschrecken (auch vor Johannes) und Bewusstseinsänderung kennzeichnen ihre Innenwelt. Ahnung und Erinnerung führen zu ihrem Vereinigungswunsch. Johannes wird ihr als Mann unwichtiger. Vor dem Abschied spürt sie einen Hauch der “bevorstehenden Vereinigung”. Nach dem Abschied hat Veronika ein verändertes Raumgefühl, alles fließt in einander über. Ihre Ichliebe steigert sich und wird wieder von dem Eintreffen des Briefes gestört. Die Ernüchterung folgt, das Gespürte schwindet, nur gewisse Reste bleiben. Johannes hat seinerseits Sicherheit gefunden. Es gibt in der Geschichte zwei Phasen zu erkennen: vor und nach der Vereinigung, mit dem Abschied als Zäsur. Erst nach dem Abschied und dem vermeintlichen Tod des Johannes, kann Veronika sich entwickeln. Für beide Phasen gilt, dass Äußeres sich ins Innere kehrt, während jedoch die Beziehung zu der äußeren Welt bestehen bleibt. Das Sich-Einmischen des Erzählers geschieht nur, um diese Innerlichkeit zu erhellen. Der Text wird von einer iterativen Zeitgestaltung und einer gestörten Chronologie gekennzeichnet. Äußerlichkeiten führen Innerlichkeiten nach sich und die Funktion der Zeit hängt eng mit der Frage der psychologischen Effekte zusammen. Wie das Zeitliche bleibt auch das Räumliche vage. Phase zwei ist in mancher Hinsicht chronologischer, doch letztendlich leider auch verwirrend. Mehr Innerlichkeit führt textuell mehr Vagheit herbei. Die Zweifel des Autors führen zu Unvorstellbarkeit und psychologische Mutmaßung verringert die künstlerische Qualität. Bis zum Ende spürt der Leser, dass es dem Autor nicht gelingt, Denken und Fühlen in harmonischer Verbindung und im Hinblick auf eine unterstellte “Wirklichkeit” darzustellen.
Novellenbegriff
(Nanda Fischer 1946, S. 224-241)
Musils theoretische Auffassung der Gattung “Novelle” umfasst einerseits Konventionelles, andererseits enthält sie die Annahme, dass Novellen “Symptomhandlungen eines Menschen oder eines Dichters” sind. Auf jeden Fall ist die Novelle nach ihm nicht utopisch, sie findet ihre Rechtfertigung im Kleinen. Die Form soll knapp sein und das Erlebnis im Vordergrund stehen. Dichtung und Form sind nicht identisch, die Form jedoch unentbehrlich. Inhalt und Form hängen außerdem eng mit einander zusammen, das Ganze als Textgebilde zählt. Vor allem interessiert Musil der Inhalt, woraus folgt, dass die Form nicht prädeterminiert sein soll. Jedes Kunstwerk ist eine Abstraktion, in der das Wesentliche nachzuweisen sei. Musil will Allgemeinheiten vermeiden und abgrenzen. Eines steht für ihn fest, nämlich, dass die Novelle in ihrer Beschränkung aus einer geistigen Erregung entsteht. Der Roman dagegen gibt dem Dichter mehr Spielraum. Der Roman ist ratioid, die Novelle dagegen bezweckt Erschütterung. Doch kann aus Novelle Roman werden. Die Umkehrung wird nicht ohne Folgen bleiben, kann dem Romanschreiber zur Herausforderung werden. In dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften ist das Erlebnis mit der Frau Major eine Novelle. Der umgrenzt bleibende “andere Zustand” kann so als “normaler” Zustand erscheinen. Seit den zwanziger Jahren hatte die Variabilität des Romans für Musil große Anziehungskraft. Dennoch gibt Musil die stärkere Wirkung der Novelle zu. Obwohl Musil das Schreiben einer Novelle anfangs als etwas Eigenes sah, neigt er dazu, diese Gattung, nach seinem Misserfolg Die Vereinigungen, mehr als Teil eines Romans aufzufassen. Als Problem gilt ihm die Einordnung in das Ganze, weil die Novelle als traditionelle Gattung sich der Moderne widersetzt. So wurde die Novelle im zwanzigsten Jahrhundert von anderen Gattungen weitgehend verdrängt. Für die Novelle bleibt die “unerhörte Begebenheit” entscheidend, wenn auch ihr Charakter subjektiver wird, die Objektivität nur im Erlebniszusammenhang zu finden ist. In dieser Weise ändert sich die Auffassung der Wirklichkeit und ist die Bezeichnung “Begebenheit” letztendlich als Abgrenzung weniger relevant. In seiner Auffassung der Gattung “Novelle” wendet Musil sich gegen die Forderung der Tatsächlichkeit und der Wahl eines repräsentativen Augenblicks. Inhalt und Ereignis seien unlösbar verbunden. Für Musil ist die Novelle: eine Erlebnisdeutung, eine “umgrenzt bleibende geistige Erregung”. Kürze als bindender Faktor zählt für ihn nicht. Musils Ansicht, jede kurze Prosaform als Novelle zu sehen, steht im Einklang mit Novellentheorien des neunzehnten Jahrhunderts. Der Idealfall der Novelle sei für Musil die qualitative Steigerung der Erlebnisdeutung mit als Höhepunkt “der andere Zustand”, den er als Idealzustand in Der Mann ohne Eigenschaften hervorgehoben hat.
Bei der Lektüre des Textes Die Versuchung der stillen Veronika fällt vor allem ein Aspekt auf, nämlich, dass die Geschichte eine Vorgeschichte zu haben scheint. Irgendwie spürt man, dass die Figuren eine Evolution durchgemacht haben. Veronikas und Johannes’ Äußerungen scheinen sich auf eine Vergangenheit zu beziehen, in der ihre Unzulänglichkeiten schon thematisiert wurden. Was Musil die beiden Figuren sagen und denken lässt, scheint stilisiert und sogar manieriert zu sein. Alles liest sich wie ein “schon Gewesenes”. Es ist bekannt, dass Musil lange an der Geschichte gearbeitet hat. Intuitiv spürt der Leser, dass es sich hier um die Endphase einer Geschichte handelt.
Corino und Kraft bestätigen diese Annahme, indem sie die Entstehungsgeschichte dieser Novelle nachweisen. Nach ihnen wird die erste Fassung gekennzeichnet von Kleinbürgerlichkeit: Cäcilie passt ihr Brautkleid. Veronika ist jetzt die Freundin. Kein Anfang, den man von Musil erwartet. Er mutet sogar klischeehaft an. Wie dem auch sei, Veronika steht in keiner Verbindung zum Leben und schwebt im Ungewissen, ohne Zeitgefühl. Das fiel auch in der endgültigen Fassung besonders auf. Schon lässt sich den Narzismus feststellen, der in der Versuchung der stillen Veronika eine wichtige Rolle spielen wird. Das Berühren des Pelzmantels macht schaudern. Hysterie-Studien, Sexualität und Trauma spielen auch weiterhin eine Rolle. Veronika und Johannes werden nirgendwo hysterisch, doch leben in einem seelischen Vakuum, das zur Hysterie führen kann. So haben Freuds Studien-Subjekte über Musil zu den “Heldinnen” Cäcilie und Veronika geführt. Auf seine eigene und besondere Weise hat Musil eine psychologische Novelle geschrieben, ohne sich hinter Freud zu verbergen, indem er ihn aber “literarisch” interpretiert.
Objektiv hat Musil als Wissenschaftler die Distanz zum Leser gesucht, was auch in seiner Behandlung der Sexualität deutlich gezeigt wird. Er ist in gewissem Sinne ein “Ingenieur der Seele”. Die normale Sexualität wird mit Perversitäten versehen, was Empörung hervorrufen kann, aber schließlich innerhalb des Textes zu neuer Funktion gelangt. Neu ist, dass die Psychologie hier in einer Novelle zum Ausdruck kommt. Die goethesche unerhörte Begebenheit ist somit modernisiert. Veronikas Trauma kommt in ihrer Sexualität zum Ausdruck. Das Verständnis für die Frau mit den zwei großen Hunden und ihre Sensibilität veranschaulichen dies. Ließ sich in der ersten Fassung die Verbindung zur Metaphysik deuten, weiterhin beabsichtigte Musil es, nicht die Theorien von den Psychoanalytikern auszuarbeiten, sondern das Problem an literarischen Gestalten ausfindig zu machen. Sie sind gleichsam das Mittel zur Veranschaulichung des dem Text unterliegenden Themas. Interessant ist, dass Musil die mystische Vereinigung und später den Koitus vorerst nur in Notizen angedeutet hat. Hat er wohl große Schwierigkeiten gehabt, sich zu entscheiden?
Seine Unsicherheit hatte vielleicht damit zu tun, dass er sich davon bewusst war, ein heikles Thema aufgegriffen zu haben? Kam es in dieser Weise zu den vielen Fassungen? Nicht nur die “lebensunfähigen” Figuren, sondern auch das Problem der Bestialität, ein delikates Thema, lassen eine Entwicklung vermuten. Die dritte Fassung Das verzauberte Haus ließ nun gerade den Gegensatz zwischen den zwei Viktoria umgebenden Männern deutlich hervortreten. Parallelen zur endgültigen Fassung lassen sich hier schon erblicken. Veronika weist Johannes ab und seine Abreise löst bei ihr eine Fernliebe aus, die von Musil metaphorisch veranschaulicht wird. Die heimlich tödliche Hochzeit oder die ‘unio mystica’ führen nach dem Eintreffen des Lebenszeichens des Johannes wieder in die alte Schablone zurück.
Alle Fassungen werden vom Unglaublichen gekennzeichnet. So bleibt unverständlich, dass Veronikas abstrakte Vorstellungen tief in ihr Inneres hineinwirken. Die Paralyse scheint jenseits alles Krankhaften zu erfolgen.
Für meine Interpretation war es wichtig, festzustellen, dass die vielen Fassungen nicht nur die geistige Entwicklung Musils erblicken ließen, sondern vor allem, dass die Entstehungsgeschichte des Textes zu der Überzeugung führte, dass – bei aller Unsicherheit im Hinblick auf die Deutung der “Interaktionen” – der Text Die Versuchung der stillen Veronika eine “Endstation” war. In diesem Zusammenhang war nicht nur die literarische “Vorgeschichte”
in der Personendarstellung wichtig, sondern vor allem die Tatsache, dass Musil hier eine Grenze erreicht hatte, das heißt auch, dass Veronika, Johannes und Demeter sich hier als “Dreigestirn” in einer endgültigen “Vorläufigkeit” befinden, was jede Analyse ihrer Endgültigkeit enthebt. Kraft erwähnt nur, dass es eine Fassung gab namens Das verzauberte Haus. Laut ihm findet der Vorspann, das Bild der Vereinigung, seinen Ursprung in der beim Verfassen der ersten Geschichte entstandenen Angst, das Glück gar nicht denken zu können. Mit der Vollendung der Liebe hat Musil es sich schwierig gemacht. Er hat diese Geschichte zum Gradmesser seines Könnens gemacht, ja mehr noch: er wollte die erreichte Perfektion steigern. Mit der Vollendung der Liebe habe Musil wahrscheinlich eine exemplarische Liebesgeschichte darstellen wollen, ein “ausgearbeitetes Abstraktum”, in dem die Erzählperspektiven bewirken, dass der Text, als Novelle verstanden, sich mit freudianischen Ideen vereinigen lässt. Dies nicht zuletzt als die Signatur der Zeit, die Zweifel institutionalisiert, Gewissheit anzweifelt. In Einzelheiten macht Kraft Fehler, wenn er zum Beispiel behauptet, dass Veronika und Johannes über einem Hühnerhof standen, sexuell jedoch unfähig zur Vereinigung sind. Das Problem der Sexualität wird auch in Krafts Vision deutlich an den Pranger gestellt, vor allem, weil ihm die volle Aufmerksamkeit Veronikas Position zwischen Johannes und Demeter gilt, ein “Dreieck”, das wohl in meiner Interpretation in seinem vollen Gewicht zu wenig behandelt wurde. Das Gleiche gilt für die Behandlung der Erzählperspektive, die – schwankend zwischen den Figuren – zu bezwecken scheint, dass weder im Rollenspiel, noch im Individuum Stetigkeit zu erwarten ist. Für Geulen war die Interpretation der Versuchung der stillen Veronika problematisch, weil er die gängige literaturwissenschaftliche Methodik nicht anwenden konnte, da die Bildhaftigkeit die Bedeutung verschleierte und das Veronika-Problem so komplex war. Bei meiner Interpretation habe ich nicht auf bestimmte Methodik geachtet, um so unbevorurteilt an den Text heranzugehen. Da war ich sicher, dass ich nur meine Ansichten verkündete, statt zu reproduzieren. Auf diese Weise gab es die größte Chance, wirklich den Text auf seinen Bedeutungsinhalt zu prüfen, gliedernd und analysierend vorzugehen, um in dieser Weise, auch mein eigenes Können im Hinblick auf die Interpretation schwieriger literarischer Texte zu prüfen, was in dieser Endphase meines Studiums eine Art Kraftprobe war. Die natürliche Anpassungssehnsucht konnte so umgangen werden. Wie Geulen hatte auch ich Schwierigkeiten mit der Metaphorik und dem Veronika-Problem. Man weiß einfach nicht, in welche Richtung man interpretieren muss, ja, welche Rolle zum Beispiel das pervertierte Denken Veronikas in allen Textteilen und im Zusammenhang mit den anderen Figuren spielt. Auch Geulen betrachtet hauptsächlich die geistige Vereinigung, die Veronika beabsichtigt. Er meint, dass Veronika diesen Zustand verabsolutiert. Zu dieser, auf der Hand liegenden Schlussfolgerung, war auch ich gekommen. Ich führe hier einige Übereinstimmungen an. Dass Veronika zuerst Demeter und dann Johannes mit einem Tier vergleicht, hat laut Geulen damit zu tun, dass Veronika das Unpersönliche von Johannes sieht und auch zu sehen wünscht. Dies macht die Vereinigung erst möglich. Es ist nicht Johannes, sondern der Zustand, den sie anstrebt. Johannes ist nur das Mittel. Gerade die Beziehungslosigkeit fesselt sie. Um diesen Zustand zu “verewigen” wünscht sie auch den Tod des Johannes. Doch alles läuft anders und Veronikas Ekstase der Ich-bezogenen Liebe endet. Veronika und Johannes bleiben schwebende Gestalten in dem Versuch, ihre Liebe zu konkretisieren. Auch ich habe die Vagheit des Textes gespürt und habe mich in meiner Interpretation bemüht, die Zwangsvorstellungen der Veronika, die Bedeutung von “Ahnung” und “Erinnerung” – nicht in letzter Linie auch im Hinblick auf die Zäsur des Abschieds im Text – trotz aller Komplexität beschreibbar zu machen. Um so schwieriger war dies, weil das Problem der “geistigen Vereinigung” im Prinzip ein Abstraktum bleibt. In meiner Interpretation, die mit der Geulens größtenteils übereinstimmt, schenke ich Einzelheiten mehr Aufmerksamkeit, wie zum Beispiel dem Signal des Vogels, das als geheimes Zeichen eine neue Phase ankündigt. – Die zwei Vögel erinnern Veronika an das Verdrängte: an eine Erinnerung, die für sie wichtig ist, vielleicht vor allem im Hinblick auf den Wunsch zur Vereinigung. Auch Geulen konstatiert, dass Johannes im Laufe des Textes unwichtiger wird, weil Veronika sich mehr und mehr angesichts einer unausgesprochenen Idealvorstellung entwickelt. Beim Abschied bekommt sie eine “Vorahnung” von dieser idealen Vereinigung und danach erlöscht alles in ihr. Geulen und ich kommen zu der Schlussfolgerung, dass Veronikas Ichliebe sich nach dem Abschied steigert und von dem Eintreffen des Briefes verletzt wird. Der von ihr kreierte Traumzustand fällt durch Johannes Worte gleichsam in sich zusammen. Alles wird wieder wie es war, nur eine “Restglut” schwelt noch unter der Asche. Johannes dagegen findet Sicherheit. Er hat auf die Straße gefunden. Überzeugender in diesem Kontext ist Joseph Strelkas Bemerkung:
Veronika aber, in einer Art von Komplementär-Erscheinung äußerer Umkehrung, empfindet gerade beim Denken an den fernen, totgeglaubten Johannes, von dem sie indessen ahnt, daß er noch lebt, als ob sich eine letzte Grenze zwischen ihnen öffnete. Der ferne Johannes hat für Veronika […] katalysatorische Wirkung […].1313
Auch Geulen nimmt in der Geschichte zwei Phasen wahr, nämlich vor und nach der Vereinigung, mit dem Abschied als Einschnitt. Dieses Muster habe auch ich als Leitfaden für meine Interpretation benutzt, indem ich die Vereinigung zum Mittelpunkt gemacht habe. Mit Geulen bin ich einig, dass der Erzähler in die Geschichte eingreift, um die Innerlichkeit des ganzen Prozesses zu betonen. Geulen ist auch zu neuen Ansichten gekommen oder hat sie im Gegensatz zu mir mehr explizit gemacht. So macht Geulen die Bemerkung, dass das Schwebende des Textes neu ist. Weil ich die Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte außer Betracht gelassen habe, habe ich nur konstatiert, dass der Text schwebend ist, ohne auf den zeitlichen Kontext zu achten.
Wohl ist mir aufgefallen, dass der Text unkonventionell ist. Musil hatte anscheinend eine neue Quelle entdeckt. Es kann also konstatiert werden, dass der Text in Musils Zeit ein Unikum und bahnbrechend war. Geulen bemerkt, dass auch die Sodomie
ein Ziel hat, nämlich die Vereinigung. Indirekt bin auch ich zu dieser Schlussfolgerung gekommen, habe sie nur nicht ausformuliert.
Auf jeden Fall ist es für das Endergebnis wichtig festzustellen, dass Veronika nicht um willen der Perversion perverse Gedanken hegt, sondern um willen eines schönen Ziels. Die perversen Gedanken führen sie sozusagen an die Grenzen ihrer Existenz, was nötig ist um sich in den anderen Zustand hinein zu versetzen. Das eine Extrem fordert das an andere zutage. Geulen kommt zu der Schlussfolgerung, dass Umgebung und Personen eng mit einander verbunden sind und dass der Raum eine ganz bestimmte Rolle spielt. Ich bin damit einverstanden, dass was die Personen fühlen in ihrer Umgebung widerspiegelt wird oder umgekehrt ihr Raumerlebnis ist. In der Dunkelheit des Hauses kommen sie sich nicht näher und sind sie sich ihrer Gefühle nicht sicher, beim Abschied auf freiem Feld, inmitten der Freiheit und des Lichts, scheinen sie sich aus diesen Schranken zu befreien. In dem Sinne kann man von “Interaktion” sprechen. So gibt es eine spürbare Kongruenz zwischen Veronikas Gefühl und dem der abgewiesenen Männer. Johannes’ Vorstellung ist in Veronika Wirklichkeit. Anscheinend strebt auch er nach einer geistigen Vereinigung. Geulen interpretiert damit, was Johannes denkt und auf dieses glatte Eis habe ich mich nicht gewagt. Vielleicht hat er recht, doch nirgendwo im Text gibt es ein konkretes Zeichen dieser Annahme. Dass auch Johannes das Ideal einer geistig absoluten Vereinigung vor Augen steht, erklärt Geulen mit seinem Selbstmordentschluss. Weil das Ideal nie Wirklichkeit werden kann, muss man sterben, wenn man nicht leidend leben will. Weil Ahnung und Erinnerung zu dem Vereinigungswunsch führen, erkennt Geulen die Wichtigkeit des Unterbewusstseins. Es ist ein Gebiet, das ich außer Betracht ließ, weil ich mich in der Psychologie nicht auskenne. Wohl wichtiger ist die Tatsache, dass Geulen die Zeit und ihre Funktion im Text stark betont. Nach ihm gibt es eine iterative Zeitgestaltung und eine gestörte Chronologie. Dies hängt mit den psychologischen Aspekten des Textes zusammen. Die erzählte Zeit ist oft Erinnerung. Auch die Metaphorik des Räumlichen hängt damit zusammen; sowohl durch die Raum- wie Zeitperspektive bleibt alles im Vagen. Der zweite Teil der Erzählung ist gewissermaßen chronologischer gebaut, leider auch verwirrender, weil Veronikas Vorstellungen nur schwer nachvollzogen werden können. Nach Geulen sind Vagheit und weniger Qualität die Folgen. Tatsächlich ist die erste Phase in der Erzählung überzeugender und schlüssiger. Drei Sachen verringern, laut Geulen, die künstlerische Qualität: die Einmischung des Autors, Unvorstellbarkeit und psychologische Mutmaßung. Laut Geulen ging es Musil um die Herausarbeitung eines psychologischen Komplexes um willen der individuellen Wahrheit. Auch ich glaube, dass Musil “das wahre Ich” hat freilegen wollen und zwar durch die Erforschung der menschlichen Seele, die er in seinen literarischen Texten durch den Schreibprozess erfassen möchte.
Nanda Fischer betrachtet Musils Novellentheorie. Die Gattungsfrage habe ich außer Betrachtung gelassen, da ich schon bei der Vorbereitung meiner Textanalyse anderen Textproblemen den Vorrang gab. Wie dem auch sei: die Gattungsfrage kann doch interessant sein. So sieht man auch bei der Betrachtung der Gattungsfrage, dass Musil zwischen Konventionellem und Unkonventionellem schwebt. Meiner Meinung nach war es nie wirklich seine Absicht “nihilistisch” zu sein. Die Versuchung der stillen Veronika kann sehr gut als Novelle bestimmt werden, sei es mit modernen Zügen. Gerade durch die Benutzung einer traditionellen Gattung konnte Musil, indem er eine besondere Stimmung durch zum Teil vage Bilder hervorlockte, das “Unerhörte” als Symptomhandlungen eines Menschen oder Dichters darstellen. Natürlich hat Musil nicht seine eigenen seelischen Regungen zu beschreiben versucht, wohl aber den Versuch gemacht, sich in die Rolle seiner “Heldin” zu versetzen, vielleicht um die weibliche Natur zu erforschen. Musil-Biografien kann man entnehmen, dass Musil während der Arbeit an Die Versuchung der stillen Veronika persönliche Probleme im Hinblick auf seine Relation mit seiner Frau hatte. In diesem Sinne ist es nicht unwichtig, wie Fischer feststellt, dass die Novelle nicht utopisch sein sollte, dennoch ein Ideal in extremo zu erkennen gibt. Veronika und auch Johannes leben trotz aller Vagheit für ein Ziel. Dichtung und Form werden hier auch in solcher Weise verknüpft, dass sowohl das Vage wie das (verborgene) Ziel sich in der Form spiegeln. Die metaphorische Sprache schließt sich dem an. Es ist mehr als nur der “Inhalt”, was diese Geschichte zur Novelle macht. Die Kürze der Form, in der die “unerhörte Begebenheit” verschleiert zum Ausdruck gebracht wird, macht dass gerade in der Abweichung von der traditionellen Gattung ein Signal steckt. In diesem Sinne stimme ich Fischer nicht zu, dass die Form hat leiden müssen. Es kann auch nicht ohne Bedeutung sein, dass Musil Die Versuchung der stillen Veronika doch als “Novelle” klassifiziert und trotz blumenreichen Stils vom “Überdrüssigen” absieht. Paradoxal scheint es, dass das Wesentliche zählte, das Vage aber zugleich das Wesentliche zu vermeiden versucht. Es liegt wohl daran, dass Musil die Gesamtheit von Thema und Erkenntnis nicht bewältigen konnte. So wirkt das Zusammengehen von einem Bedürfnis an “Abgrenzung” und “Entgrenzung” manchmal störend. Die geistige Erregung Veronikas in der Geschichte mit dem Hahn ist nach Fischer der Kern, aus dem die Novelle entsteht. Es ist auch meine Ansicht. Die Novelle bleibt laut Fischer abgegrenzt und nur in diesem Bereich wirksam. Mit dem von Fischer dargestellten Problem des Verhältnisses Roman-Novelle habe ich mich nicht beschäftigt. Natürlich ist es im Rahmen der Entwicklung Musils als Romancier interessant, weil es so deutlich wird, was die Novelle für die Literatur bedeutet hat und wo Die Vereinigungen stehen, auch im Zusammenhang mit der Literatur der Moderne. Fischer erwähnt in diesem Kontext Höllerer, der bemerkt hat, dass Novelle und Kurzprosa schwer von einander zu trennen sind. Durch Veränderungen in der Gattung Novelle im zwanzigsten Jahrhundert sei die “unerhörte Begebenheit” weniger relevant. Meiner Ansicht nach ist es im Falle Musils in Die Versuchung der stillen Veronika eher eine Frage der Definition, denn wie Fischer selber zeigt, ist die
“umgrenzt bleibende geistige Erregung” ein Erlebnismoment, dass nicht nur den Kern der Novelle bildet, sondern auch eine “unerhörte Begebenheit” ist. Wenn Musil auch den Roman immer wichtiger fand, blieb er doch ein Vertreter der Novelle, sie war sein Liebling. Vielleicht hat er sogar erkannt, dass er seine künstlerischen Qualitäten nur in dieser Gattung wirklich entfalten konnte. Zum Schluss möchte ich noch auf zwei Aspekte des Textes zurückkommen. Auch in Martin Siegels Aufsatz “Getrenntsein als Geschichte in der Versuchung der stillen Veronika” steht die Relation zwischen Veronika und Johannes zentral als “Kommunikationsmodell” eines gestörten Verhältnisses, das basiert ist auf zwei Positionen: das Erlebnis mit dem Hahn und die Sublimation der Liebe, die für Veronika mit Johannes’ Tod verknüpft ist. Die Kombination der beiden bleibt schwierig im Text, weil es sich in beiden Fällen um “Entgrenzungen” handelt, die im Sinne einer “Vereinigung” als Ideal kaum realisierbar sind. Immer ist der Leser geneigt, sich mit Musils Veronika aus instinkthafter Tiefe in die kristallene Sphäre körperloser Liebe zu begeben. Das heißt, dass es hier schließlich um die Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies sich handelt, dargestellt anhand von Modell-figuren, die einerseits Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, andererseits eine Art Träger mythischer Sinnbilder sind. Man hat den Eindruck, dass die Trennung der Geschlechter, die im Körperlich-Erotischen liegt, im Sinne des Andro-gynos-Mythos überwunden werden möchte. Das Problem wäre also auf eine Sehnsucht nach Ganzheit zurückzuführen, die Sebastian Seidel für den Roman Der Mann ohne Eigenschaften festgestellt hat.14 Es ginge also letzten Endes um ein Undefinierbares “Heilige” – eine “androgyne Ganzheit”, wie sie Platon in seinem Symposion
als Anfang der Geschichte der Menschheit beschrieben hat.
Zuerst aber müßt ihr die menschliche Natur und ihre Schicksale kennenlernen; denn unsere Natur war ehemals nicht so wie jetzt, sondern ganz anders. Am Anfang gab es dreierlei Geschlechter von Menschen, nicht nur zwei wie heute, ein männliches und ein weibliches, sondern dazu noch ein drittes, das gemeinsam zu diesen beiden gehörte; sein Name ist noch geblieben, während er selbst verschwunden ist. Das androgyne war dieses eine, das es damals noch gab, und Gestalt und Name waren aus den beiden anderen, dem männlichen und dem weiblichen, zusammengesetzt; jetzt aber besteht es nur noch als Name, und der ist ein Schimpfwort. 15
Es bleibt eine interessante Frage, ob die Sehnsucht nach der Wiedererlangung dieser verlorenen Einheit als das Grundmotiv dieses Musilschen Textes angenommen werden darf. Vielleicht führt diese Frage aber im Rahmen dieser Arbeit zu weit, dennoch möchte ich mit ihr beschließen.
Arntzen, Helmut: Musil-Kommentar sämtlicher zu Lebzeiten erschienener Schriften außer dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. München 1980: Winkler.
Büren, Erhard von und Emil Staiger: „Zur Bedeutung der Psychologie im Werk Robert Musils“. In: Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte. Zürich und Freiburg 1970: Atlantis.
Corino, Karl: Robert Musil – Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003: Rowohlt.
Dinklage, Karl: Robert Musil: Leben, Werk, Wirkung. Wien 1960: Amalthea.
Fischer, Nanda: „’Eine plötzliche und umgrenzt bleibende geistige Erregung...’: Zum Novellenbegriff Robert Musils“. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur: a Journal devoted to the study of German Language and Literatur. Wisconsin 1946, S. 224-241.
Geulen, Hans: „Robert Musils Die Versuchung der stillen Veronika». In: Wirkendes Wort 15 (1965),S. 173-187.
Kaiser, Ernst und Eithne Wilkins: Robert Musil – Eine Einführung in das Werk. Stuttgart 1962: Kohlhammer.
Karthaus, Ulrich: Der andere Zustand – Zeitstrukturen im Werke Robert Musils. Nerlin 1965: Schmidt.
Kraft, Herbert: Musil. Wien 2003: Paul Zsolnay.
Platon: Meisterdialoge – Phaidon – Symposion – Phaidros. Zürich und München 1974: Artemis.
Schelling, Ulrich und Emil Staiger: „Identität und Wirklichkeit bei Robert Musil“. In: Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte. Zürich und Freiburg 1968: Atlantis.
Schillemeit, Jost: Interpretationen – Deutsche Romane von Grimmelshausen bis Musil. Bd. 3. Frankfurt am Main und Hamburg 1966: Fischer.
Seidel, Sebastian: Dichtung gibt Sinnbilder: die Sehnsucht nach Einheit: das Lebensbaum-Mythologem und das Isis-Osiris-Mythologem in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt am Main 2001.
Siegel, Martin: „Identitätskrise als Beziehungskonflikt – Robert Musils Erzählungen vor dem Problem gefährdeter Intersubjektivität: Getrenntsein als Geschichte in der Versuchung der stillen Veronika“. In: Beiträge zur Robert-Musil-Forschung und zur neueren österreichischen Literatur. Bd. 10. St. Ingbert 1997: Röhrig Universitätsverlag, S. 58-65.
Schröder, Jürgen: „Am Grenzwert der Sprache. Zu Robert Musils Vereinigungen.“ In: Euphorion 60 (1960), S. 311-334.
Strelka, Joseph: Robert Musil – Perspektiven seines Werks. Frankfurt am Main 2003 (= New Yorker Beiträge zur Literaturwissenschaft Bd. 5).
home | liste der Referate | Einhalt | vorig | folgend |
[1] vgl. hierzu Jürgen Schröder: “Am Grenzwert der Sprache – Zu Robert Musils ‘Vereinigungen’ ”, in: Robert Musil, hrsg. von Renate Heydebrand, Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft 1982 (= Wege der Forschung Bd. 588), S.380-412. Hier und im Folgenden wird zitiert nach Robert Musil – Frühe Pros und aus dem Nachlass zu Lebzeiten. Reinbek bei Hamburg 1988: Rohwolt.
[2] vgl. hierzu Jürgen Schröder: “Am Grenzwert der Sprache – Zu Robert Musils ‘Vereinigungen’ ”, in: Robert Musil, hrsg. von Renate Heydebrand, Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft 1982 (= Wege der Forschung Bd. 588), S.380-412.
[3] Ebda, S. 384.
[4] “Von den Vereinigungen möchte ich ihnen selbst abraten. Es ist so viel Hermeneutik und trotzdem Verschlossenheit darin, ja fast künstlerische Geheimlehre, daß fast unvermeidlich als enter Eindruck Abscheu entsteht” (zitiert nach Jürgen Schröder, a.a.O.) Diese Aussage könnte genauso gut der Erzählung Die Versuchung der stillen Veronika vorangestellt sein.
[5] vgl. hierzu Sebastian Seidel: Dichtung gibt Sinnbilder, Die Sehnsucht nach Einheit. Das Lebensbaum-Mythologem und das Isis-Osiris-Mythologem im Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Frankfurt a. M. 2001: Peter Lang (= New Yorker Beiträge zur Literaturwissenschaft, hrsg. von Joseph Strelka Bd. 3)
[6] Ebda.
[7] Ebda, S. 107 f.
[8] Im Sinne der Entstehungsgeschichte des Textes haben die Figuren in der Erzählung Die Versuchung der stillen Veronika (eine umgearbeitete Fassung der Erzählung Das verzauberte Haus) eine literarische Vergangenheit. Vgl. hierzu das dritte Kapitel dieser Arbeit.
[9] Eine “Vorgeschichte”, die der Leser dauernd vermutet, gibt es insofern als die Figur der Veronika in früheren Versionen des Textes schon mehrere Gestalten angenommen hat, im literarischen Kontext schon “ein Leben hinter sich hat”. Vgl. hierzu das dritte Kapitel dieser Arbeit.
[10] Auch hier stößt der Leser auf eine Stelle, die vermuten lässt, dass dem Text dieser Erzählung ein Text vorangeht, in dem wahrscheinlich von einem früheren Abschied die Rede ist.
11 Karl Corino: Robert Musil. Reinbek bei Hamburg 2003: Rowohlt, S. 382. Vgl. auch “Der kreisförmige Urmensch”: Sebastian Seidel, a.a.O. und das dritte Kapitel dieser Arbeit.
12 Im Endkapitel dieser Arbeit , das ich mit dem vereinfachenden Titel “Schlussfolgerung” versehen habe, versuche ich, ausgehend von den Interpretationen von Corino, Kraft, Siegel, Geulen, Fischer die Übereinstimmungen und Unterschiede im Vergleich zu der von mir gemachten Analyse des Textes festzustellen und auszuwerten.
13 Joseph P. Strelka: Robert Musil – Perspektiven seines Werks. Frankfurt am Main 2003, S. 104.)
14 Sebastian Seidel: Dichtung gibt Sinnbilder: die Sehnsucht nach Einheit: das Lebensbaum-Mythologem und das Isis-Osiris-
Mythologem in Robert Musils Roman “Der Mann ohne Eigenschaften”, Frankfurt a.M. 2001, S. 105-177.
15 Platon: Meisterdialoge – Phaidon – Symposion – Phaidros. Zürich und München 1974, S. 129 f.